Schulprojekt zum "Mauerschützen-Prozess" auf Rügen gestrichen
Ein Gymnasium auf Rügen beendet die Zusammenarbeit mit dem Historiker Roman Grafe, der jahrelang Rollenspiele zum Thema "Mauerschützenprozesse" organisierte. Grafes Verdacht: Ein Lehrer, der am letzten Rollenspiel teilnahm und selbst DDR-Grenzsoldat war, habe für die Ausladung gesorgt. Die Schule widerspricht.
Seit 2009 gibt es am Bergener Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium auf Rügen einmal im Jahr eine Schulprojektwoche zur DDR-Geschichte. Roman Grafe organisierte zwölf Jahre unter anderem Rollenspiele zum Thema "Mauerschützenprozesse". Nun wurde er ausgeladen. Der Vorwurf: Er unterrichte unausgewogen. "Was absurd ist", so Roman Grafe, "weil das Wesen eines solchen Rollenspieles in einem 'Mauerschützenprozess' eben genau das ist. Aus verschiedenen Perspektiven wird der Konflikt um die Tötung eines DDR-Flüchtlings betrachtet. Die verschiedenen Rollen übernehmen Schüler, Gerichtsprozessvertreterrollen, und dann finden sie zu ihrem eigenen Urteil. Was auch über hundert Mal in Deutschland zwischen Greifswald und Freiburg im Breisgau und Hamburg und Dresden sehr gut geklappt hat."
Verantwortung von DDR-Grenzsoldaten im "Kalten Krieg"
In der Wochenzeitung "Die Zeit" machte er seinen Fall nun selbst öffentlich und äußert einen Verdacht: Ein Lehrer, der am letzten Rollenspiel teilnahm und selbst DDR-Grenzsoldat war, habe für das Ausladen gesorgt, so Grafe. Es sei zum Disput zwischen ihm und dem Lehrer gekommen.
Kernfrage dabei: Wieviel individuelle Verantwortung hatten DDR-Grenzsoldaten? Roman Grafe hat da eine klare Haltung: "Es geht darum, dass klar gestellt wird, dass die Todesschüsse an der DDR-Grenze Verbrechen waren und dass alle die, die dieses Regime des Grenzregimes DDR unterstützt haben, als Grenzsoldaten zuallererst und als Offiziere natürlich auch, dass die mitverantwortlich sind für das Unrecht der DDR und dass man das nicht zu verklären habe."
Wie weit darf DDR-Aufarbeitung gehen?
Verstößt diese Sicht gegen einen "ausgewogenen" Geschichtsunterricht? Die Grenztruppen der DDR standen im Kalten Krieg an der sogenannten "Systemfront", sollten den Sozialismus vor dem "Klassenfeind" schützen. Sie sollten aber auch die Flucht der eigenen, eingesperrten Bürger verhindern. Auch dafür galt der Schießbefehl.
Als Machtinstrumente der Arbeiterklasse verfügen die Grenztruppen heute über die erforderliche Bewaffnung und Ausrüstung für den Schutz unserer Staatsgrenze unter komplizierten Lagebedingungen. Aus einem Bericht des DDR-Fernsehens 1981
Bei Fluchtversuchen von Ost nach West starben etwa 300 Menschen.
Spannungsfeld zwischen persönlichem Erleben und wissenschaftlichen Erkenntnissen
Ein "ausgewogener Umgang" mit Todesschüssen - für den Geschichtsunterricht ist das eine Herausforderung. Sagt Jochen Schmidt von der Landeszentrale für politische Bildung in Mecklenburg Vorpommern: "Wir haben es mit moralisch aufgeladenen Materie zu tun. Wir haben mit vielen Zeitzeugen zu tun und mit vielen Menschen, die darüber noch aus eigenem Erleben berichten können. Und wir haben wissenschaftliche Erkenntnisse, die wir natürlich auch zur Kenntnis nehmen müssen. Das ist das Spannungsfeld, was immer existiert, wenn wir es in der Bildungsarbeit mit Zeitgeschichte zu tun haben."
Debatte um Verantwortung und angemessenen Geschichtsunterricht
Mit welchen Aussagen Roman Grafe bei seinem Projekt am Ernst-Moritz-Arndt-Gymnasium unausgewogen war, Schulleiter Christoph Racky möchte das nicht konkret benennen - auch auf Nachfrage nicht. Dem NDR teilt er schriftlich mit, das Ausladen Grafes sei die "kollektive Entscheidung" eines Schulgremiums gewesen. Gästeeinladung und -bewertung sei allein Sache der Schule. Das Thema gehöre nicht in die Öffentlichkeit.
Schulleiter Christoph Racky kritisiert Roman Grafe: "Im Sport nennt man dies 'Nachtreten'. Dafür gibt es dann die rote Karte. Hier erhält stattdessen jemand, der es nicht verdient, mediale Aufmerksamkeit. Es dürfte ihn ermuntern, zukünftig in ähnlicher Weise vorzugehen. Insofern halte ich weder den Beitrag in der Wochenzeitung "Die Zeit", aber auch den Beitrag des NDR für nicht geeignet, diese Problematik angemessen darzustellen." Die Debatte um die Todesschüsse an der innerdeutschen Grenze, die Debatte um Verantwortung und angemessenen Geschichtsunterricht - fast 35 Jahre nach dem Mauerfall geht sie weiter.