Neuer Umgang mit Kolonialgeschichte gefordert
Im Auftrag Emmanuel Macrons erarbeiteten Bénédicte Savoy, französische Kunsthistorikerin, und Felwine Sarr, Ökonom aus dem Senegal, ein Gutachten zum Umgang mit Kulturgütern, die einst aus den Kolonien geraubt wurden. Im Ergebnis legen sie nahe, all diese Güter zurückzugeben. Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftler aus aller Welt appellieren nun in einem Aufruf, nicht bei der Rückgabe stehen zu bleiben, sondern die Chance zu nutzen, einen neuen Umgang mit der Kolonialgeschichte zu pflegen. Eine der Initiatorinnen dieses Appells ist die an der Uni Göttingen lehrende Historikerin Rebekka Habermas.
Frau Habermas, Ihr Aufruf formuliert Zustimmung zu den von Savoy und Sarr geforderten Restitutionen sowie zur "proaktiven" Bereitschaft, geraubte Objekte zurückzugeben. Und dann folgt ein großes "Und doch". Was stört Sie denn an dem Savoy-Sarr-Gutachten?
Rebekka Habermas: Mich stört an dem Savoy-Sarr-Gutachten überhaupt nichts. Ganz im Gegenteil - ich halte das für eine sehr begrüßenswerte und für die Bundesrepublik längst überfällige Aktion. Auch halte ich die Maßnahmen, die Savoy und Sarr vorschlagen, für absolut adäquat.
Das "Aber" bezieht sich darauf, dass die Restitution geforderter Objekte etwas ganz Wichtiges ist, aber dass diese Objekte, wenn sie zurückgefordert werden, für uns eine zweite Chance bergen, die darin liegt, dass wir hier das erste Mal in einer breiteren Öffentlichkeit die Möglichkeit haben, uns mit der eigenen Kolonialgeschichte auseinanderzusetzen. Denn mit der Kolonialgeschichte ist in Deutschland sowieso, aber auch in England und Frankreich bisher nur sehr zaghaft öffentlich als eine Erinnerung umgegangen worden. Es eröffnet sich also jetzt die Möglichkeit, auf diesen Teil der deutschen und europäischen Geschichte noch einmal genauer hinzugucken.
Sehen Sie in der Öffentlichkeit, so, wie sie sich im Moment darstellt, die Bereitschaft, in diese Diskussion auch einzutreten, den historischen Blick so zu öffnen, wie Sie sich das wünschen?
Habermas: Ich habe das Gefühl, es ist das erste Mal, dass das überhaupt - zumindest in der Bundesrepublik - möglich ist. Es ist das erste Mal, dass in einem Koalitionsvertrag offiziell der Auftrag steht, dass Geschichtspolitik nicht nur im Erinnern an den Holocaust besteht, sondern auch im Erinnern an die Kolonialgeschichte. Das erste Mal seit über 100 Jahren, nachdem wir die Kolonien glücklicherweise verloren haben, gibt es überhaupt einen solchen Fokus in einer breiteren Öffentlichkeit.
Auf der anderen Seite gibt es ein hinhaltendes Abwarten seitens der Bundesregierung, beispielsweise den Völkermord an den Herero und Nama als das anzuerkennen, was er wohl war. So ganz ohne hinhaltenden Widerstand findet das Ganze wohl doch nicht statt.
Habermas: Nein, natürlich findet das nicht ohne Widerstand statt, aber Auseinandersetzungen mit der Vergangenheit sind auch kein Nachmittagsspaziergang. Dieser Widerstand ist doch gerade das, was einem Ansporn sein sollte, sich damit intensiv zu beschäftigen, sich zu streiten und sich damit auseinanderzusetzen. Es wird etwas zu einem Thema, was bisher überhaupt nicht Teil des deutschen Erinnerns war.
Manche bezweifeln heftig, dass die Strukturen der deutschen Museumslandschaft besonders förderlich sind für so eine Auseinandersetzung. Dazu kommen die hinhaltenden Widerstände, die man in manchen Stellungnahmen der Verantwortlichen, etwa der Stiftung Preußischer Kulturbesitz, heraushören kann. Wird denn das alles wirklich in Gang kommen, muss da nicht auch strukturell etwas passieren?
Habermas: Man kann zu den Widerständen noch einiges dazurechnen. Es haben ja nicht nur die ethnologischen Museen koloniale Gegenstände - die gibt es auch in Naturkundemuseen, in Heimatmuseen und in Stadtmuseen. Erschwerend kommt hinzu, dass sehr viele Museen so schlecht ausgestattet sind, dass sie ihre Objekte nicht mal richtig inventarisiert haben. Viele Museen wissen also nicht einmal, was sie haben. Es gibt ganz viele Schwierigkeiten, und es gibt auch ganz viele Stellen, die sicherlich blockieren - aber das heißt ja nicht, dass wir nicht genau darauf hinarbeiten sollten, alle diese Themen anzugehen. Ich glaube sehr wohl, dass auf der Ebene des Gesetzgebers dort Schritte dringend notwendig sind, dass Restitution gesetzlich geregelt werden muss - was aber dann immer noch nicht heißt, dass massenhaft koloniale Objekte zurückwandern. Ich habe sowieso meine Zweifel, dass das massenhaft der Fall sein wird, weil die ehemaligen Kolonien sehr unterschiedlichen Umgang haben mit ihren Objekten. Es gibt durchaus Personengruppen, die das schätzen, dass diese Objekte in Europa liegen - andere möchten sie gerne zurückhaben.
Hartmut Dorgerloh, der Intendant des Humboldt-Forums, sagt jetzt in einem Interview in der "Zeit": Ja, es müsse und werde Restitutionen geben. Aber: "Eine pauschale Rückgabe" könne nicht die Antwort auf die komplexe Geschichte der Kulturen, Gesellschaften, Staaten sein. Sehen Sie diese Institution damit eher an Ihrer Seite - oder eher auf einer ganz anderen Schiene unterwegs?
Habermas: Ich will und kann das im Einzelnen nicht bewerten. Ich denke aber schon, dass es die grundsätzliche Bereitschaft zur Rückgabe all der Objekte geben muss, die während der kolonialen Gewaltherrschaft nach Europa gekommen sind, weil das Unrechtszusammenhänge sind. Wenn es diese grundsätzliche Bereitschaft dazu gibt und eine grundsätzliche gesetzliche Regelung, dann wird man im Einzelfall sowieso über jedes Objekt reden. Es ist nicht immer ganz klar, wem das Objekt eigentlich gehört. Aber die Prioritäten sind in unserem Aufruf anders: Wir sagen nicht: Das ist alles so schwierig, deswegen werden wir nur im Einzelfall zurückgeben. Sondern unsere Position ist, dass das so wichtig für unsere Vergangenheit ist, dass wir unbedingt wollen, dass das alles gesetzlich geregelt wird, es als eine Gewaltherrschaft und Gewaltkontext anerkannt wird, um dann über einzelne Objekte sowieso reden zu müssen.
Was also erwarten und erhoffen sie sich in dem Kontext vom Humboldt-Forum?
Habermas: Vom Humboldt-Forum erwarte ich zunächst, dass das eine Institution ist, die die Diskussion weiter bereichern wird.
Das Interview führte Ulrich Kühn