Napoleon Bonaparte: Freiheitsbringer oder Kriegstreiber?
Welches Vermächtnis hat Napoleon Bonaparte mit seinem Modell der "zivilisatorischen Herrschaft" den westlichen Demokratien hinterlassen? Ein Gastbeitrag des Historikers Paul Nolte.
Napoleon Bonaparte starb am 5. Mai 1821 auf der britischen Insel St. Helena. Dorthin war er 1815 nach seiner Niederlage bei Waterloo verbannt worden. In den Jahrzehnten zuvor hatte der in Korsika geborene Franzose den europäischen Kontinent geprägt wie kein anderer Herrscher - als General, revolutionärer Diktator, französischer Kaiser, im Spannungsfeld zwischen Fremdherrschaft auf der einen, politischer Modernisierung und Gesellschaftsreform auf der anderen Seite.
Kleists "Hermannsschlacht" unter dem Eindruck Napoleons
Zu meinen frühen Theatererlebnissen gehört Claus Peymanns Inszenierung von Kleists "Hermannsschlacht" 1982 im Schauspielhaus Bochum. Gert Voss spielte den Cheruskerfürsten im listigen Widerstand gegen die römischen Legionen des Varus, Kirsten Dene seine Frau und Mitstreiterin Thusnelda. Großartiges Theater - widerstreitende Gefühle: Durfte man mit Hermann sympathisieren, der die technisch und logistisch überlegenen Feinde in den Hinterhalt lockte, möglicherweise bei Kalkriese in der Nähe von Osnabrück? Brachten die Römer nicht die Segnungen des Fortschritts in das wilde Mitteleuropa nördlich der Alpen? Köln und Trier zeugen bis heute eindrucksvoll davon. Wäre Hermann oder Arminius, wie sein lateinischer Name lautet, nicht gewesen, hätte die römische Zivilisation viel tiefere Wurzeln in dem Gebiet geschlagen, das später einmal Deutschland wurde. Durfte man sich also, und sei es nur als Zuschauer, auf die Seite eines deutsch-germanischen Nationalismus schlagen?
Was hat das mit dem französischen Kaiser Napoleon Bonaparte zu tun? Der Dichter Heinrich von Kleist schrieb sein Drama "Die Hermannsschlacht" im Jahre 1808, unter dem Eindruck Napoleons, genauer: der preußischen Niederlage gegen die von diesem geführte französische Armee zwei Jahre früher. Klar: Kleists Römer waren die Franzosen; die Deutschen leisteten mal wieder tapferen Widerstand gegen den Eindringling, nur dass ihnen diesmal der Anführer, ein Hermann, fehlte. À propos Widerstand gegen den Eindringling: Dieselbe Geschichte kennen fast alle aus der Selbstbehauptung des gallischen Dorfes gegen die etwas dümmlichen Römer in den Asterix-Comics.
Napoleon: "Vollstrecker" der Französischen Revolution
Ein Bild von Napoleon können die meisten bis heute leicht abrufen: von kleiner Statur, rundliches Gesicht, dunkle Haare, von einem Zweispitz bedeckt - und die rechte Hand zwischen die Knöpfe der Weste oder des Mantels geschoben. Die Handhaltung, nach ihm als "Napoleon-Geste" bekannt, sollte signalisieren: Das ist ein kluger, ein ruhiger, ein besonnener Herrscher, einer der nachdenkt und den Überblick behält, nicht nur im Schlachtengetümmel. Das markierte Abstand zu den Wirren der Französischen Revolution, vor allem zu ihrer radikal-jakobinischen Phase und der Herrschaft Robespierres. Die Revolutionskriege machten Napoleon als Feldherrn groß - also jene Kriege seit 1792, in denen sich das revolutionäre Frankreich gegen die europäischen Monarchien verteidigte, denen der Schreck gehörig in die Glieder gefahren war. Sein Staatsstreich von 1799 machte ihn zum "Ersten Konsul", 1804 ließ er sich zum Kaiser krönen. Als "Vollstrecker" der Französischen Revolution wird Napoleon bis heute gerne bezeichnet, und darin schwingt eine tiefe Ambivalenz mit: Er beendete die Revolution, er liquidierte sie - und führte sie zugleich zu Ende, machte sie historisch unauslöschlich. Bürgerliche Freiheiten und Rechtsgleichheit, das war napoleonisches Programm, verankert in einem fortschrittlichen Zivilgesetzbuch, das in Frankreich prinzipiell bis heute gilt. Diese Ambivalenz war schon den Zeitgenossen durchaus bewusst. Sollen wir solche schwierige Erinnerung nicht lieber unseren französischen Nachbarn überlassen?
Krieg und Not - aber auch Reformen und Modernisierung
Doch Napoleon, davon handelt ja das Drama Kleists, "vollstreckte" die Revolution noch in einem dritten Sinne: nämlich an anderen. Aus den Verteidigungskriegen wurden Offensivkriege, ja Eroberungskriege, die den Kaiser und seine Armeen immer weiter in den Osten Europas führten. Der deutschen Geschichte hat er einen unauslöschlichen Stempel aufgedrückt. "Am Anfang war Napoleon", mit dieser markanten Feststellung beginnt Thomas Nipperdeys große Darstellung deutscher Geschichte im 19. Jahrhundert. Die politische Organisationsform von tausend Jahren, das Heilige Römische Reich, zerfiel. In den von ihm kontrollierten Gebieten errichtete Napoleon sogenannte Satellitenstaaten wie das Königreich Westphalen auf dem Gebiet des heutigen südöstlichen Niedersachsens. Besonders im Südwesten Deutschlands herrschten immer wieder Krieg, Besatzungsgewalt, Hungersnot: eine traumatische Erfahrung zwischen Dreißigjährigem Krieg und Erstem Weltkrieg, die heute weithin vergessen ist.
Aber dagegen steht wieder: Die Vorherrschaft Napoleons über weite Teile Deutschlands brachte nicht nur Krieg und Not, sondern auch Reformen und vielerlei Modernisierung. Adlige und feudale Herrschaft bröckelten, Kirche und Staat gingen getrennte Wege. Neue Staaten gaben sich Verfassungen und anerkannten die Rechte von "Staatsbürgern", die nun nicht mehr bloße "Untertanen" waren. Das bürgerliche Gesetzbuch, der Code civil, regelte die Rechtsverhältnisse dieser Staatsbürger untereinander viel fortschrittlicher, als die alten deutschen Gesetze das taten. Muss man das nicht begrüßen und an diese großen Verdienste der Fremdherrschaft und Besatzung freudig erinnern? Oder steht etwas anderes im Vordergrund, nämlich die Zerstörung von Tradition und Identität durch die Reformen, durch neue Bürokratien und vereinheitlichende Gesetze? Nicht nur im österreichischen Tirol ist Andreas Hofer bis heute ein Held, weil er 1809 einen Volksaufstand gegen die Herrschaft des napoleonisch kontrollierten Bayern anführte. Und Napoleon hatte noch nicht genug - drei Jahre später führte er seine Truppen gegen Russland und erreichte sogar Moskau. Ganz Europa unter seiner Vorherrschaft, der Osten vom überlegenen Westen aus unterworfen: Im schnell scheiternden Russlandfeldzug erscheint Napoleon wie ein Vorläufer Hitlers und der nationalsozialistischen Gewaltherrschaft über Europa.
Neuauflage des napoleonischen Dilemmas
Und wie endete dieser Schrecken, einschließlich des millionenfachen Massenmords der Shoah, im Jahre 1945? Mit einer Besatzungsherrschaft, also mit einer Neuauflage des napoleonischen Dilemmas. Für die westlichen Zonen, für die entstehende Bundesrepublik war die Sache eindeutig: Aus dem Westen kam das Gute, der Fortschritt, zunächst einmal jedenfalls: die Wiederherstellung von Menschenwürde, Recht und Zivilisation. Aber auch die sowjetische Besatzung zwischen Elbe und Oder folgte dem napoleonischen Muster, nicht nur, indem sie die DDR als Satellitenstaat in einem imperialen Gefüge errichtete. Das geschah zugleich in dem für die Kommunisten unerschütterlichen Bewusstsein, damit den historischen Fortschritt in rückständige Gebiete zu bringen und eine Gesellschaft der Gleichen zu verwirklichen. Die russische Oktoberrevolution von 1917 war ja ihrerseits eine Wiederaufführung der Französischen Revolution und ihres Anspruchs auf totale Veränderung aller Lebensordnungen.
Hermann und Thusnelda als Vorläufer von Baader und Meinhof
Dass die Amerikaner nichts als Fortschritt und Demokratie bringen würden, daran zweifelten auch in der Bundesrepublik immer mehr Menschen, besonders seit der Eskalation des Vietnamkriegs in den späten 1960er-Jahren. Genau das reflektierte Claus Peymanns ironische Inszenierung der Kleist'schen Hermannsschlacht: Widerstand gegen Besatzung, gegen Kolonisierung, gegen "hegemoniale" Herrschaft und Kultur, wie man bald mit den Worten des italienischen Marxisten Antonio Gramsci sagte. Hermann und Thusnelda waren dann keine blonden Urgermanen, keine Prototypen jenes deutschen Nationalismus, der in den Befreiungskriegen gegen Napoleon, in der Leipziger Völkerschlacht von 1813 Schwung bekam und Frankreich später zum "Erbfeind" stilisierte. Man konnte sie als prototypisches Guerillapaar sehen; im radikalsten Sinne sogar: als Vorläufer von Andreas Baader und Ulrike Meinhof. Oder jedenfalls, weniger anstößig und in heutige Begriffe gefasst: als zivilgesellschaftliche Aktivisten im Kampf für autonome Lebensführung, gegen den allgegenwärtigen Napoleonismus.
Napoleon wird nicht so schnell verschwinden
Auch in jüngster Zeit hat uns das napoleonische Dilemma nicht losgelassen. Gerade verkünden die USA den vollständigen Abzug aus Afghanistan; die Soldaten der Verbündeten, auch die Deutschen, werden dem folgen. Bei dem Einmarsch vor 20 Jahren, nach den islamistischen Anschlägen vom 11. September 2001, ging es nicht nur um den Kampf gegen die Terrorgruppe Al-Qaida, sondern um den Versuch, ein rückständiges Land zu modernisieren, verlässliches Recht und staatsbürgerliche Gleichheit durchzusetzen, nicht zuletzt für die Frauen in einer extrem patriarchalischen Gesellschaft. Wie viel Kolonialismus, wie viel westliche Arroganz steckte darin? Und andererseits: Hat der napoleonische Anspruch gar keine Berechtigung mehr? Sollen die Verhältnisse an jeder Stelle der Welt so bleiben, wie sie sind, auch wenn sie den Vorstellungen universeller Menschenrechte eklatant widersprechen? Die Zweifel an der napoleonischen Attitüde sind zuletzt weiter gewachsen, vor allem im Blick auf die koloniale Vergangenheit Europas in Afrika. Zugleich sind wir, anders als in der Zeit des Kalten Krieges, nicht mehr bereit, Ansprüche von Diktaturen auf "Nichteinmischung in die inneren Angelegenheiten" des Landes zu akzeptieren. Im Verhältnis des Westens zu China spitzt sich diese Frage derzeit zu.
Napoleon wird also nicht so schnell verschwinden. Heutzutage gedenken wir nicht eines Helden, sondern des napoleonischen Dilemmas. Es hat die moderne deutsche Geschichte geprägt und besteht auch in der globalisierten Welt des 21. Jahrhunderts fort.