Leipziger Buchpreis 2024: Juryvorsitzende über die Nominierten
Die 15 Nominierten für den Preis der Leipziger Buchmesse stehen fest. Der Vorsitzenden der Jury Insa Wilke ist aufgefallen, dass es bei den Einreichungen "ein starkes Interesse an historischem und politischem Bewusstsein" gibt.
Mit dem Preis werden seit 2005 herausragende deutschsprachige Neuerscheinungen geehrt, jeweils fünf in den Kategorien Belletristik, Sachbuch und Übersetzung, dotiert mit insgesamt 60.000 Euro.
Frau Wilke, was sind für Sie die Besonderheiten bei den Nominierten in diesem Jahr?
Insa Wilke: Man muss das natürlich einzeln pro Buch betrachten. Aber eine Tendenz, die mir aufgefallen ist, die mir auch wichtig war, als ich gelesen habe, ist, dass es Texte sind, Bücher sind, Anliegen sind, die gegen die derzeitige Polarisierung in der Gesellschaft stehen. Das meint sowohl die sprachliche, rhetorische als auch die inhaltliche Polarisierung. Wir haben gerade im Sachbuchbereich einige Bücher dabei, die Themen aufgreifen, die im Moment diskutiert werden, die das aber immer mit einem etwas anders gewendeten Blick tun und dadurch auch die Diskussion in eine andere Perspektive rücken.
Das erste Mal ist im Bereich der Belletristik auch eine Graphic Novel, also ein Comic nominiert: "Genossin Kuckuck" der Hamburgerin Anke Feuchtenberger, die seit mehr als 25 Jahren in Hamburg Grafisches Erzählen unterrichtet. Und in der Kategorie Sachbuch ist zum ersten Mal ein Hörbuch dabei. Wie ist es dazu gekommen?
Wilke: Graphic Novels hatten wir tatsächlich schon in den letzten Jahren ab und zu, aber es ist noch nicht lange, dass die ins Erzählen, in die Kategorie Belletristik mitgerechnet werden. Ich glaube, da weitet sich der Blick für bestimmte Genres in der Literaturkritik. Und das Buch von Anke Feuchtenberger ist wirklich sehr bemerkenswert, gerade in Hinblick auf das, was ich gerade gesagt habe, weil sie für mich eine Sprache für das kollektive Unbewusste findet. Auch wenn es eine individuelle Geschichte ist, die sie erzählt. Bei dem Hörbuch war es für mich so bemerkenswert, dass wir in einer Zeit leben, in der wir von Fake-News reden, von KI, die jetzt auch sogar Stimmen imitieren kann und darum auch historische Quellen fälschen kann. Und hier wird eine Bestandsaufnahme von Original-Tönen aus den Jahren 1945 bis 2000 gemacht. Für mich war das augenöffnend, die Stimmen von bestimmten Zeitzeugen zu hören, weil das eine Dimension hineinbringt, die ein erzählender Text nicht kann. Trotzdem ist dieses Hörbuch eigentlich gestaltet wie ein Sachbuch.
Wie viele Bücher haben Sie lesen müssen, bis sich die Jury auf diese 15 Nominierungen einigen konnte?
Wilke: Da werden wir immer fast wahnsinnig. Es sind über 500 Einreichungen, und wir sind natürlich erst einmal verpflichtet, das zu lesen, was uns die Verlage einreichen. Das ist mir ganz wichtig, dass wir da seriös vorgehen. Insofern wird man ein bisschen wahnsinnig - es ist aber auch unheimlich spannend, einen Überblick über ein ganzes Jahr Buchproduktion zu bekommen und ein Gefühl dafür zu kriegen, woran die Autor*innen im Moment arbeiten.
Sie haben schon gesagt, dass Sie bei den Nominierungen gewisse Trends ausmachen konnten. Ist das auch etwas, was Sie insgesamt bei den Einreichungen feststellen konnten?
Wilke: Mir ist bei den Einreichungen aufgefallen, dass es im Moment offenbar ein starkes Interesse an historischem und politischem Bewusstsein gibt, dass wir uns darüber klar werden müssen, darüber nachdenken müssen, wie das befördert werden kann, dass es ein historisches Bewusstsein in der Gesellschaft gibt. Damit setzen sich im Moment viele Leute auseinander. Einerseits arbeiten die Autor*innen daran, andererseits suchen die Verlage danach. Und wir Leser*innen gucken auch mit einem bestimmten Interesse in die Buchwelt.
Gibt es in der Jury große Diskussionen oder sind Sie sich relativ zügig einig gewesen?
Wilke: Es gibt immer große Diskussionen, und das ist auch gut so. Natürlich gibt es objektive Kriterien wie zum Beispiel: Wie ist die Formsprache? Ist der Stoff relevant? Gibt es eine Stimmigkeit zwischen Methode und dem, was inhaltlich vermittelt wird? Gleichzeitig ist es so, dass man jedes Jahr an jedem Buch die Kriterien neu entwickeln muss. Und das ist die eigentliche Diskussion, die dann auch so Spaß macht. Es geht darum, was ein wichtiges Buch in dieser Zeit ist, und da spielt auch die Prägung des Blicks durch den ganzen Kontext eine Rolle. Da fließt durchaus mit ein, was uns in diesem Jahr wichtig ist, worauf wollen wir dieses Jahr den Scheinwerfer richten?
In der Kategorie der Belletristik haben wir schon über das Buch von Anke Feuchtenberger und über die Graphic Novel gesprochen. Aber es gibt da auch andere Namen, die zum Teil bekannt, zum Teil unbekannter sind.
Wilke: Ja. Mir ist in letzter Zeit, eigentlich seit der Corona-Zeit aufgefallen, dass es sehr spannend ist, was jüngere Autor*innen im Moment machen. Gleichzeitig kommt es mir manchmal vor, als ob es bei manchen Schreibenden auch eine gewisse Blockade gibt in dem Sinne, dass es gerade unheimlich schwierig ist, eine Formsprache für die Komplexität der Konfliktlagen zu finden. Damit meine ich nicht, dass in der Literatur immer aktualistisch auf die gesellschaftlichen Konflikte geschrieben werden muss. Aber ich glaube schon, dass die Konflikte die Schreibenden beeinflussen. Ich merke das bei den Jüngeren, als ob die da einen direkteren Zugriff haben und weniger Skrupel im Umgang mit der Sprache. Das gilt zum Beispiel für Barbi Marković, Dana Vowinckel als auch Inga Machel, die sehr unterschiedlich schreiben, aber schon einen sehr speziellen Zugriff aufs Erzählen haben.
Wie sieht Ihre Arbeit in den kommenden Wochen aus? Denn jetzt muss ja die Entscheidung gefällt werden. Schauen Sie sich das alles noch mal genau durch, oder haben Sie sich im Grunde schon entschieden und haben es nur noch nicht veröffentlicht?
Wilke: Nein. Das Schöne an dieser Jury ist, das es tatsächlich ein wirkliches Gespräch ist, eine wirkliche Auseinandersetzung. Das heißt, wir lesen diese Bücher noch einmal genau mit dem vergleichenden Blick. Das ist schon noch mal ein Stück Arbeit, aber es ist jetzt ein anderer Modus, weil wir uns ein bisschen mehr Zeit nehmen können, um zu lesen.
Das Interview führte Friederike Westerhaus.