Lehrermangel: "Wir müssen gucken, was wirklich gelernt werden muss"
Die Situation an deutschen Schulen ist besorgniserregend: Es fehlt an allem, insbesondere an Lehrerinnen und Lehrern. Ein Gespräch mit René Munajed, Schulleiter der Robert-Bosch-Gesamtschule in Hildesheim.
Herr Munajed, es gibt zahlreiche Lehrer-Klischees: Die haben kurze Arbeitszeiten bei vollem Gehalt und so weiter. Ich habe aber das Gefühl, dass diese Seite am Image des Lehrerberufs etwas besser geworden ist, oder?
René Mounajed: Die Witze haben sich schon verändert. Wenn es heute Lehrerwitze gibt, dann eher, dass Mitarbeiter der Kultusbehörde als Agenten verkleidet einen Lehrer ausfindig machen und ihn in den Wagen zerren und verschleppen wollen, nach dem Motto: 'Das ist jetzt meiner, der kommt mit mir'. Das ist die Situation, wie wir sie jetzt erleben.
Der Lehrermangel macht sich breit, und die Anforderungen, die an den Beruf gestellt werden, sind nicht weniger geworden. Ich glaube, das ist in der Bevölkerung angekommen - und das ist schon mal gut.
Wie war dieses Schuljahr in Niedersachsen, wie würden Sie das kurz vor den Sommerferien bilanzieren?
Mounajed: Das war schon heftig. Ich bin sehr froh und ich glaube, ich spreche da auch im Namen aller Kolleginnen und Kollegen, dass es jetzt, nach den Osterferien, möglich ist, dass auch schwangere Kolleginnen im System bleiben können. Das war in anderen Bundesländern vorher schon der Fall. Wir in Niedersachsen haben aufgrund der Corona-Verordnung noch lange daran gearbeitet. Es gab fast wöchentlich die Situation, dass Kolleginnen von einem Tag auf den anderen ausgeschieden sind und man sich gefragt hat, wer ab Montag den Leistungskurs unterrichten soll. Die Aussage der Kultusministerin, so bitter sie ist, dass wir mit dem Lehrermangel umgehen lernen müssen, ist richtig.
Ich hoffe, dass wir die Kraft haben, in der Zukunft nicht nur Reförmchen zu machen, sondern an den Wurzeln, am ganzen Bildungssystem zu arbeiten. Thomas de Maizière hat das neulich mal sehr klar im "Tagesspiegel" gesagt: "Es wird Zeit, dass wir an die Grundfesten gehen, dass wir nicht nur in Klein-Klein denken, sondern dass wir wirklich das ganze System anfassen, damit es überhaupt besser werden kann."
Bleibt dafür denn im Moment Zeit? Oder kann man nur die größten Löcher stopfen?
Mounajed: Im Alltag ist es so, dass wir uns im Hamsterrad befinden, dass wir eigentlich mit den Aufgaben überfordert sind. Auf die Lehrkräfte kommen immer mehr Aufgaben zu. Der Rücken wird immer gebeugter, und irgendwann droht auch die stärkste Kollegin, der stärkste Kollege darunter zusammenzubrechen. Das ist genau das, was wir verhindern wollen. Muss denn alles, was wir im Moment unterrichten, genau so unterrichtet werden? Kann man nicht auch mal sagen: Wo setzen wir denn mal andere Hebel an? Ich kann mir vorstellen, das der Projektunterricht uns helfen kann, gerade in den weiterführenden Schulen, Dinge an Schülerinnen und Schüler zu verlagern, und dass man trotzdem einen qualitativ hochwertigen Unterricht produzieren kann.
Es kommt auch nicht darauf an, dass jede Stunde gegeben wird - es kommt darauf an, dass die Stunde, die gegeben wird, gut ist. Guter Unterricht sollte wieder im Zentrum der Überlegungen stehen. Das ist eine ganz große Herausforderung, wenn nicht genug Leute da sind. Die Grundschulen haben zum Beispiel eine Verlässlichkeit. In einer dritten Klasse kann man nicht sagen: Ihr macht jetzt mal die vierte Stunde alleine Unterricht. Da muss jemand rein, und das bedeutet im schlimmsten Falle, dass es eine Betreuung wird.
Aber eine Betreuung ist kein Unterricht. Unterricht ist eine qualitative Auseinandersetzung mit Inhalten, mit einer Lernprogression und so weiter. Das aufrechtzuerhalten, ist im Moment schwierig und droht meines Erachtens sowieso zu scheitern, weil wir noch nicht am Ende dieser Lehrermangel-Phase sind. Auf der anderen Seite müssen wir aufpassen, dass wir junge Leute nicht vergrätzen, die sagen: Ich hätte eigentlich Lust auf diesen Job, aber wenn ich mir das anschaue, mache ich doch etwas anderes.
Sie haben einen Aufsatz geschrieben, der ein bisschen Furore gemacht hat, in dem Sie behaupten, dass Schule nicht nur ein Lern-, sondern auch ein Lebensraum ist. Aus dem, was Sie sagen, höre ich heraus: 'Lasst uns da auch ein bisschen leben und freier gestalten, was wir da tun'.
Mounajed: Ganz genau. Wir erleben immer wieder: Wenn wir in Drucksituationen geraten, dann wünschen wir uns, dass dieser Druck nachlässt, dass wir Hebel finden, aus dem Druck rauszukommen, durchzuschnaufen, neue Wege zu finden. Ich glaube, das braucht das Bildungssystem. Es gibt Schulen, die das schon umsetzen: Sie machen Lernräume, öffnen die Fächer, gehen in übergeordnete Kontexte, nehmen die Eltern noch mehr mit, geben den Schülern noch mehr Verantwortung. All das sind keine Allround-Rezepte für jede Schule, aber es sind erste Wege.
Ich halte nichts davon, alles aufrechtzuerhalten, sondern genau zu gucken: Was muss wirklich sein? Wir haben gesehen, dass die Basiskompetenzen der Schülerinnen und Schüler offensichtlich schlechter geworden sind. Da gab es auch dementsprechende Brandbriefe. Aber wir sehen auch, dass wir nicht genug Lehrer haben. Jetzt müssen wir das irgendwie zusammenbringen und gucken, was wirklich gelernt werden muss. Aber das kann kein Bundesland allein entscheiden, da brauchen wir den übergeordneten Kontext. Ich weiß, dass das schwierig ist, das Grundgesetz und so weiter. Aber mit der Bürokratie kommen wir auf Dauer auch nicht weiter. Wir müssen jetzt anfangen, die dicken Bretter zu bohren, und das geht nur in übergeordneten Kontexten.
Trotz allem: Was lieben Sie daran, vor einer Klasse zu stehen?
Mounajed: Wir sind ja alle Lehrer geworden, weil wir die jungen Menschen schätzen, die Arbeit mit den Kindern, mit den Heranwachsenden, mit den Jugendlichen. Das ist schon eine tolle Sache. Wenn man für seine Fächer brennt und junge Menschen mag, dann ist das ein ganz toller Beruf, den man sich auch nicht kaputtmachen lassen sollte. Wir haben ganz viele Lehrkräfte, die einen unheimlich hohen Anspruch an sich selber haben. Sie wollen guten, qualitativ hochwertigen Unterricht machen und die Bildungslandschaft voranbringen.
Aber ich habe manchmal Angst, dass wir denen zu viel zumuten. Deswegen muss die Diskussion auch in diese Richtung gehen, dass wir nicht immer nur etwas draufpacken, sondern dass wir auch etwas runternehmen und uns in der Gesellschaft fragen: Was soll Schule wirklich leisten? Die Grundaussage ist doch, dass die Menschen, die sie verlassen, wissen, wer sie sind, was sie können und was sie in ihrem Leben machen wollen, beruflich und auch sonst. Ich wünschte mir, dass wir uns diesen Fokus etwas näher angucken würden.
Das Interview führte Mischa Kreiskott.