Kriegsbilder auf TikTok: Neue Perspektiven und gefährliche Desinformation
Videoplattformen wie TikTok, Instagram und YouTube werden immer mehr zu Propaganda- und PR-Zwecken genutzt. Ein Gespräch mit Marcus Bösch, der an Desinformationskampagnen in Online-Medien forscht.
TikTok ist in erster Linie als Musik-Plattform gestartet. Mit dem Beginn des Krieges in der Ukraine hat sich das aber geändert. Seitdem sieht man oft auch Kriegsbilder auf der Plattform, weshalb mancher sie inzwischen "WarTok" nennt.
Herr Bösch, in einem Aufsatz, den Sie schon vor zwei Jahren geschrieben haben, steht, dass TikTok der zentrale Ort der Bilder und Berichte aus dem ukrainischen Kriegsgebiet geworden ist. Was sehen wir denn da zum Beispiel?
Marcus Bösch: Jeder Krieg und jeder Konflikt wurde auf die mediale Art vermittelt, die gerade zeitgeschichtlich da war. Es gibt Briefe aus dem Zweiten Weltkrieg, es gibt die ersten Filmaufnahmen aus Vietnam, und die Älteren erinnern sich sicherlich noch an die Live-Fernsehübertragung aus dem Irak-Krieg. Was wir inzwischen bei Konflikten auf dem ganzen Planeten auf unserem Mobiltelefon sehen können, sind ganz individuelle Eindrücke, die multiperspektivisch sind: Wir kriegen Videos von Betroffenen, von Soldatinnen und Soldaten, Videos, die den Krieg dokumentieren in all seiner Mannigfaltigkeit, von Flucht, Alltag, aber auch Angriffen bis hin zu Videos von Soldatinnen und Soldaten, die gerade von Drohnen gesucht beziehungsweise angegriffen werden.
Warum grade TikTok? Oder anders gefragt: Welche Rolle spielt TikTok im Vergleich zu anderen Sozialen Plattformen bei der Verbreitung von Kriegsbildern?
Bösch: TikTok hat die Produktion von Videos unglaublich einfach gemacht. Man kann aus der App heraus direkt produzieren und veröffentlichen. Das heißt, dass es nicht mehr aufgeteilt ist in mehrere Schritte: Video drehen, Video editieren, Video hochladen, sondern das ist jetzt alles in einer App sehr einfach handhabbar. TikTok bringt darüberhinaus noch einen großen Vorteil: Die allermeisten Videos lassen sich herunterladen und auf anderen Plattformen teilen. Das dient dazu, dass sich Inhalte noch einfacher, noch besser und noch weiter verbreiten lassen.
Es gibt es auch viel Desinformation, die bei TikTok hochgeladen wird. Welche Muster erkennen Sie da? Gibt es typische Erzählweisen oder Bildstrategien?
Bösch: Zunächst einmal lässt sich feststellen, dass wir uns im 21. Jahrhundert in einer Informations-Unordnung befinden, weil jede Person mit einem Smartphone nahezu ungefiltert - die Plattform TikTok filtert durchaus, aber eben nicht alles bei dieser Masse von Inhalten - Inhalte ins Internet laden kann. Natürlich sind da auch Falschinformationen dabei, die aus unterschiedlichsten Gründen gepostet werden. Manche Leute wollen beispielsweise einfach nur Aufmerksamkeit und wollen teilhaben. Dazu nehmen sie zum Beispiel einen Sound aus einem anderen Video und produzieren ein neues Video dazu. Das führt dazu, dass man dann Videos sieht, die verwackelt mit dem Handy gedreht werden, und man hört Schüsse oder andere Kriegsgeräusche, und man denkt, man befindet sich gerade in einer gefährlichen Situation. Wenn man dann aber auf den Sound tippt, sieht man, dass hunderte, wenn nicht tausende Videos exakt den gleichen Sound verwenden. Das ist ein typisches Muster auf der Plattform. Das muss noch nicht mal mit Täuschungsabsicht verbreitet werden, aber natürlich sind Konfliktparteien inzwischen auch mit dabei und versuchen, den Krieg nicht nur auf dem Schlachtfeld, sondern den drumherum liegenden Informationskrieg ebenfalls zu gewinnen.
Wer steckt hinter solchen Kriegspropaganda-Videos? Sind das staatliche Akteure, sind das private Gruppen, sind das Einzelpersonen?
Bösch: Auch da ist erstmal eine Informations-Unordnung, das ist eine wilde Gemengelage. Ich habe vor zwei Tagen ein TikTok-Video gesehen, in dem als Text drin stand: "Früher haben wir Propagandisten geschult, um Videos anzufertigen - inzwischen kann ich das als 15-Jähriger auch in meinem Keller machen." So ähnlich sieht diese Kriegspropaganda bisweilen aus.
Auch hier haben wir tradierte, staatliche Akteurinnen und Akteure - das konnte man bei dem russischen Angriffskrieg auf die Ukraine sehen. Sowohl von russischer als auch von ukrainischer Seite wird von staatlichen Stellen versucht, Meinungen im eigenen Land, im anderen Land, aber auch international zu beeinflussen. Darüberhinaus gibt es aber auch Hobby- und Heimanwender, die sagen, sie wollten etwas für ihr Land tun, indem sie Videos verbreiten, die zeigen sollen, wie stark die Moral der Ukrainerinnen und Ukrainer beispielsweise ist.
Gibt es im Gaza-Konflikt ähnliche Handlungsvorgänge?
Bösch: Absolut. Wir sehen immer die Idee, dass man sich selbst humanisiert und den Gegner dehumanisiert. Der Gegner ist immer derjenige, der beispielsweise internationales Recht oder Kriegsrecht bricht, während man selber immer der oder die "Gute" ist. Das konnte man vor allem nach dem israelischen Angriff auf Gaza sehen, als es flächendeckend Videos von sehr jungen, meist weiblichen israelischen Soldatinnen gibt, die in diesen Videos hauptsächlich tanzen. Als ich über dieses Phänomen gestolpert bin, habe ich mir erst mal nicht viel dabei gedacht, aber ich habe dann gesehen, dass es sich dabei um mehrere hundert Videos von mehreren hundert Privat-Accounts handelt. Ich habe das mit einem Kollegen näher untersucht, und wir konnten da Muster erkennen, dass hier versucht wird zu sagen: Schaut uns an, wir sind 19, wir sind so wie ihr in Europa oder in den USA, wir verteidigen einfach nur unser Land, und haben außerdem hier auch noch eine gute Zeit.
Welche Auswirkungen haben diese Videos auf die öffentliche Meinung, insbesondere bei jüngeren Zielgruppen? Wie viele Leute schauen das und wie viele nehmen das auch für bare Münze?
Bösch: Wir können erst mal festhalten, dass in Deutschland pi mal Daumen 23 Millionen Menschen TikTok nutzen, und die durchschnittliche Nutzungsdauer dieser Plattform liegt täglich zwischen 60 und 90 Minuten. Zudem gibt es einige Untersuchungen, die festmachen, dass zumindest bei einer jüngeren Zielgruppe Soziale Medien traditionelle Medien als Hauptinformationsquelle abgelöst haben. Das wiederum heißt, wenn ich mich als junger Nutzer, junge Nutzerin auf TikTok informiere und das auch erst einmal meine einzige Quelle ist, dann kriege ich hier sehr viel, was nicht durch tradierte Medien mit einem ethisch-moralischen Pressekodex durchgefiltert wurde. Das mag man in einem ersten Angang erstmal verurteilen - ich würde es ein bisschen zweigeteilt sehen: Auf der einen Seite kriegen wir viel nähere Informationen, etwa von sehr jungen Nutzerinnen aus der Ukraine, die ihre Flucht dokumentieren. Das ist deutlich aussagekräftiger als ein Zwei-Minuten-Stück in der Tagesschau. Auf der anderen Seite muss die redaktionelle Leistung eigentlich bei den Nutzerinnen und Nutzern liegen, die selber einschätzen können müssen, ob das, was sie da sehen, wahr ist, wer das mit welcher Intention gepostet hat, ob es dafür eine zweite Quelle gibt et cetera. Das findet aber im Kommentarbereich bei TikTok durchaus statt. Man kann das Ganze also relativ ambivalent sehen.
Das Gespräch führte Florian Schmidt.
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