"Keiner wird um etwas bitten": Erzählungen aus dem Kriegsalltag
Serhij Zhadan ist einer der bekanntesten Autoren der Ukraine. 2022 erschien sein Kriegstagebuch "Nachrichten vom Überleben im Krieg", jetzt liegt ein Band mit Erzählungen vor: "Keiner wird um etwas bitten".
Die Welt ist aus den Fugen, der Krieg seit mehr als drei Jahren die nicht mehr neue Normalität. Anrufe wie dieser gehören zum Alltag:
Am zweiten Märztag, dem siebten Kriegstag, rief Kolja an und bat, eine Leiche wegzubringen. Artem war nicht überrascht, fragte aber nach - wessen Leiche genau? "Die Nachbarin meiner Mutter", erklärte Kolja. "Schon den siebten Tag verlässt sie die Wohnung nicht mehr. Dort in der Nähe hat es eingeschlagen, es ist kaum mehr jemand im Haus geblieben." Leseprobe
Artem und sein Partner Softie brechen die Tür auf und finden die Frau in ihrem Bett, lang ausgestreckt, warm angezogen. Sie sieht friedlich aus. Trügerischer Friede auch im neunten Stock eines Bürogebäudes.
Serhij Zhadan lässt uns lange im Dunkeln tappen
Zwei Männer warten in der Teeküche auf einen neuen Arbeitskollegen, während draußen farbenprächtig die Sonne untergeht. Das Gespräch mit dem Bewerber verläuft seltsam tastend. Erst am Ende der Geschichte wird klar, warum: Der Mann ist blind, als einziger überlebte er auf dem Rückzug von der Front die Explosion einer Landmine.
Zhadan erzählt unmittelbar, umstandslos, ist ganz dicht bei seinen Figuren und wir mit ihm - bei der Soldatin und dem Soldaten, die frustriert eine Liebesnacht versuchen, bei dem Mann, der sich scheinbar widerwillig mit einer früheren Klassenkameradin trifft. Wieder lässt Zhadan uns hier lange darüber im Dunkeln, unter welchen Umständen sich die beiden begegnen.
Sie passierte das Tor, bog rechts ab, verschwand. Er holte das Handy, fand ihren Anruf, fügte sie zur Kontaktliste hinzu. Steckte das Smartphone wieder in die Tasche, saß und wartete auf die Krankenschwester, die ihn zurück ins Krankenzimmer rollen würde. Leseprobe
Unterschiedliche Perspektiven führen zu größeren Geschichten
Gerade weil er so unaufgeregt von Verlust, Tod und Schmerz erzählt, trifft Zhadan mitten ins Herz. Kaum auszuhalten sind manche dieser Geschichten, doch der Ton macht es möglich. Immer wieder öffnet sich zudem der Blick: Die Sonne scheint, die Baumwipfel rauschen, die Sterne leuchten. Früher hat der Mann, der jetzt in der zerbombten Schule schläft, sie nie gesehen.
Manche der Figuren begegnen uns mehrmals, sodass wir sie aus verschiedenen Perspektiven kennenlernen - wie die Geliebte des Kommandeurs, die auf seiner Beerdigung von dessen Frau taxiert wird. So entsteht ein Netz von Bezügen, in dem die Figuren Halt finden und eine größere Geschichte.
Erzählungen voller Schmerz und Poesie
Illustriert ist der Band mit Schwarzweiß-Zeichnungen von Zhadan - Skizzen von Strommasten, Bäumen, Kraftwerken, Häusern, zerstörten Häusern, darunter das ehemalige Wohnhaus des Autors. In manchen Gegenden wohnt kaum noch jemand:
Die Vögel, das Vogelgeschrei in den Bäumen - lautstark und unermüdlich. Die Vögel konnten weiter schreien, die morgendliche Stille füllen, diese ganze Leere ignorieren. Sie hatte man vergessen zu warnen. Ihnen hatte man nichts gesagt. Stadt der Vögel, dachte Artem und schloss das Fenster. Leseprobe
Die Poesie hat immer wieder Platz in diesen Geschichten. Zhadans Blick ist der eines Menschen, der teilt, wovon er schreibt, aber auch der eines Dichters, dem es gelingt, sich seine Sprache zu bewahren. "Keiner wird um etwas bitten" ist ein Band mit großartigen, dem Kriegsalltag abgerungenen Erzählungen: Jedem seien sie empfohlen, insbesondere denen, die allzu oft meinen ohne zu wissen.
Keiner wird um etwas bitten
- Seitenzahl:
- 165 Seiten
- Genre:
- Roman
- Zusatzinfo:
- Übersetzt von Sabine Stöhr und Juri Dukot
- Verlag:
- Suhrkamp
- Veröffentlichungsdatum:
- 17. März 2025
- Bestellnummer:
- 978-3-518-43238-9
- Preis:
- 24 €
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