Eine Archäologie der Moderne
Das Graben in der Vergangenheit, das Auswerten hinterlassener Spuren und die Suche nach ihrer Bedeutung für die Gegenwart und Zukunft - so ließe sich die Arbeit von Jan Assmann beschreiben. Als Ägyptologe hat er die Theorie des "kulturellen Gedächtnisses" entwickelt. Jetzt hat er ein neues Buch geschrieben, in dem er sich mit der "Achsenzeit" beschäftigt. "Eine Archäologie der Moderne" - so lautet der Untertitel.
Herr Assmann, der Begriff der Achsenzeit hat in der Philosophie, in der Kulturgeschichte eine lange Tradition. Der Philosoph Karl Jaspers prägte den Begriff und sprach von der Achse der Weltgeschichte, um die sich alles dreht, die ein Vorher und Nachher markiert. Wie deuten Sie den Begriff?
Jan Assmann: Ich unterscheide zwischen dem Begriff, wie Jaspers ihn nach dem Zweiten Weltkrieg geprägt hat, und der Beobachtung, die er aufgreift, die dem Begriff zugrundeliegt: die Beobachtung, dass in China, Indien, Persien, Israel, Griechenland ungefähr um die gleiche Zeit, 500 vor Christus plus-minus 100, 200 Jahre, ungefähr im gleichen Sinne ein geistiger Durchbruch passierte. Da traten Konfuzius in China, Buddha in Indien, Zarathustra in Persien, die Propheten in Israel und die ersten Philosophen in Griechenland auf. Und der gemeinsame Nenner ist eben die Entstehung von Gedanken, Texten, die wir heute noch lesen. Also eine Epoche machende Wende.
Suchte Jaspers nicht auch - beeinflusst durch die Verheerungen des 20. Jahrhunderts, die Katastrophe des Zweiten Weltkriegs und den Holocaust - nach Deutungskriterien und zurückliegenden Referenzpunkten? Je größer das Chaos, desto stärker der Wunsch nach Struktur und Rückbesinnung auf Altbewährtes.
Assmann: Ja, genau. Jaspers schrieb auf dem Trümmerberg des Zweiten Weltkriegs und strebte so etwas wie eine globale geistige Neuordnung an. Und dafür berief er sich auf diese Beobachtung eines gleichzeitigen Durchbruchs in eine geistige Welt, in der wir heute noch leben. Die besondere Pointe, die erst Jasper für richtig erkannte, war, dass die heutige Menschheit auf einem Sockel aufruht, der nicht Europa ist, sondern der global ist. Ihm ging es darum, dieses europäische Kulturgedächtnis und damit verbundene Superioritätsgefühle Europas aufzubrechen und Europa in einen menschheitsgeschichtlichen globalen Zusammenhang einzugliedern.
Die Achsenzeit war für ihn der Schlüssel, denn da konnte er zeigen, dass nicht nur Europa, sondern die ganze Welt, die Grundlagen für eine globale Verständigung gelegt hat. Sein Begriff war: grenzenlose Kommunikation. Es gibt keine Fremdheit. Die Menschheit ist sich überall ähnlich, und wir müssen die Ähnlichkeiten adaptieren und versuchen, eine weltweite Verständigung herzustellen, die solche Konflikte, Kriege und Unmenschlichkeiten in Zukunft ausschließt.
Ist damit nicht auch der Versuch verbunden, einen Zusammenhalt dieser unterschiedlichen Kulturen herzustellen, um eine Einheit zu beschwören, die gegenwärtigen Differenzierungen entgegengestellt werden kann, um das Fremde weniger fremd zu machen?
Assmann: Ja, genau das ist sein Anliegen. Seine These ist der Satz: Wahr ist, was uns verbindet. Er wollte einen neuen Begriff der Wahrheit und einen neuen Begriff von globaler Verbundenheit oder Ähnlichkeit der Menschen zusammenbringen. Und die Grundlage dieser Gemeinsamkeit ist in der Achsenzeit gelegt worden - das ist seine These. Ich bin Ägyptologe und glaube nicht an die Achsenzeit. Ich sehe nicht, wieso um 600 oder 500 vor Christus die großen Texte entstanden sein sollen. Was in der Antike entstand, sind die Kulturtechniken, Texte zu kanonisieren, zu kommentieren, immer weiter im kulturellen Gedächtnis präsent zu halten, sodass wir noch heute mit diesen Texten und Gedanken leben.
Der Grundbaustein Ihres Denkens ist das bereits erwähnte kulturelle Gedächtnis: das Deuten vergangener Kulturen, das Erinnern und Interpretieren für das Hier und Jetzt oder Künftiges. Auch Jaspers fragte nach der Bedeutung der gegenwärtigen "Verwandlung". Haben Sie im Jahr 2018 darauf eine Antwort?
Assmann: Ja, unbedingt. Wir leben auch in einer Zeit der grundlegenden Verwandlung. Das hängt mit der Digitalisierung zusammen. So wie die Schrift das kulturelle Gedächtnis der betroffenen Kulturen, in denen die Schrift verwendet wurde, grundlegend verwandelt hat, so ist es jetzt die Digitalisierung. Immer sind das Verwandlungen des kulturellen Gedächtnisses der Überlieferung: das, was wir aus vergegangen Generationen übernehmen und kommenden Generationen weitergeben wollen. Mit der Digitalisierung ist auch der Begriff der Wahrheit ins Wanken geraten, mit der Manipulierbarkeit der Kommunikation. Man kann noch gar nicht ganz abschätzen, was diese Verwandlung bedeutet. Es gibt schon sehr weitgehende Entwürfe, die versuchen, es auf die Zukunft hochzurechnen, was wir heute erleben. Aber zweifellos ist das ein Schritt von menschheitsgeschichtlicher Bedeutung, indem wir hier stehen.
Das Interview führte Claudia Christophersen