Sendedatum: 17.01.2011 22:30 Uhr

Innensicht eines NS-Verbrechers

von Sylvie Kürsten

Wie sieht es in dem Kopf eines Massenmörders aus? Wie tickt ein NS-Verbrecher? Letzte Antworten auf solche Fragen gibt es nicht? Doch. Der Kommandant von Auschwitz, Rudolf Höß, hat sie in seinen Aufzeichnungen geliefert.

Der ehemalige Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, Rudolf Höß, in Handschellen. © picture-alliance / dpa
Der ehemalige Kommandant des Konzentrationslagers Auschwitz, Rudolf Höß (M.), wird Mitte der 40er-Jahre nach Polen ausgeliefert. Am 16.04.1947 wurde er in Auschwitz hingerichtet.

Ob dieses Massenvernichtung der Juden notwendig war oder nicht, darüber konnte ich mir kein Urteil erlauben. Wenn der Führer selbst die Endlösung der Judenfrage befohlen hatte, gab es für einen alten Nationalsozialisten keine Überlegungen, noch weniger für einen SS-Führer.

Nur Wenigen ist dieses Selbstzeugnis heute überhaupt noch bekannt. 1947 hat Höß es in Untersuchungshaft in Krakau geschrieben, 1958 wurde es erstmals in der Bundesrepublik veröffentlicht.

Buchhaltung über einen Massenmord

"Diese unglaubliche, fast in einer pervertierten Form unschuldige Naivität, die er seinen Taten gegenüber zu Tage legt, das hat mich am meisten erschüttert", sagt Jürg Amann. Die rund 500 Seiten Originalaufzeichnungen hat der Schweizer Schriftsteller zu einem knappen Text eingekürzt, das Erschütternde durch Weglassungen noch einmal zugespitzt.

Jürg Amann, Schweizer Schriftsteller. © NDR
Jürg Amann hat die Aufzeichnungen Rudolf Höß' monologisiert und bietet dadurch einen Blick in das Gedankengut des Nazis.

"Das hat mich geradezu über den Haufen geworfen, dass da einer sich hinstellt, einer der Haupttäter des Nazi-Regimes, und schreibt freiwillig Faktum für Faktum auf, wie das zustande gekommen ist, wie er den Auftrag erhalten hat, wie er den umgesetzt hat, wie er den pflichtdienlichst zur höchsten Effektivität gesteigert hat, als ob er Buchhaltung führen würde über sich selber."

Eine Antwort auf "Die Wohlgesinnten"

Soweit das Original. Vor vier Jahren hat sich Jonathan Littell in einen Täter hineinversetzt - in seinem Roman "Die Wohlgesinnten". Er erdachte sich einen fiktiven Täter als Hauptfigur. Einen SS-Übermenschen, der sich faschistischen Gewaltexzessen hingibt und im Morast pornographisch-homosexueller Träume versinkt. Das tausendseitige Monstrum hatte damals schon unzählige Kritiker - und auch Amann zählt zu ihnen.

Jonathan Littell, Autor. © Hélie / Gallimard
2008 erschien der Roman "Die Wohlgesinnten" in Deutschland. Mit seinem fiktiven Täter ist Jonathan Littell stark in die Kritik geraten.

"Da wir aber das Originaldokument und die Originalmaterialien haben, finde ich, gibt es einfach Dinge, wo das für mich zumindest obszön wird, wenn ich mir das, was jenseits des Menschlichen und deswegen nicht mehr denkbar sein sollte auch noch ausdenke. Das finde ich, da keine Not war, das zu tun, nicht gut. Und so gesehen war das dann für mich auch so eine Art Antwort auf dieses Buch von Jonathan Littell."

Amann zeigt das Original - ohne Kommentar

Statt viele Täter-Bilder zu einer Fratze zu komprimieren, wie Littell es tut, will Amann bei dem historischen Einzelfall bleiben. Erklärt nichts, liefert nur das Original. Aber - ist das nicht auch Quellenverherrlichung? Darf man das unkommentiert lassen - diese merkwürdigen, auch kruden Gedanken? "Natürlich hat er Vieles verzerrt gesehen", entgegnet Amann. "Aber das ist seine Sehensweise, das hat ja zu dieser Wirklichkeit geführt, die durch ihn überhaupt in die Welt gekommen ist."

Ich bin nach wie vor Nationalsozialist im Sinne einer Lebensauffassung. Eine Idee, eine Anschauung, der man bald 25 Jahre lang angehangen hat, mit der man verwachsen mit Leib und Seele verbunden war, lässt man nicht einfach dahin fahren, weil die Verkörperung dieser Idee, der nationalsozialistische Staat seine Führung falsch, ja verbrecherisch gehandelt haben. Ich kann das nicht.

"Er betont bis zum Schluss, er hat nie eigenhändig einen Juden vergast, das hat er nur machen lassen und hat es beobachtet und hat die Krematorien bauen lassen. Aber selber hält er sich nach wie vor für einen anständigen Menschen. Und ich finde, das ist bei fast niemandem sonst so genau nachzuvollziehen, wie so was entstehen kann, also der Werdegang der Banalität des Bösen lässt sich, glaub ich, jetzt in meinen Mondodrama, das ich aus diesen Materialien gebaut habe, Schritt für Schritt nachvollziehen."

"Die Wirklichkeit genügt"

Schon oft gab es Annäherungen an das Böse. Mit der amerikanischen Serie "Holocaust", der ersten fiktiven Darstellung über die Massenvernichtung, begann die Bilderflut zur NS-Zeit. Und eine heftige, bis heute anhaltende Debatte über den richtigen Umgang damit: "Schindlers Liste" oder "Der Untergang" - sie alle haben uns ein Bild vom Unfassbaren geliefert. Ein Bild, das nicht selten in Schieflage gerät. Das will Amman jetzt korrigieren. Durch den distanzierten Blick in die Originale, die Rückkehr zu den Tatsachen. 

"Ich hab für mich da die Position, dass es nicht erlaubt ist, auf dem Rücken von sechs Millionen Toten oder noch mehr Unterhaltung zu machen, also das dem Unterhaltungsbetrieb auszuliefern. So was denke ich mir nicht aus, und ich reichere es auch nicht an mit Phantasie. Die Wirklichkeit genügt, sie muss in so einem Fall, finde ich, einfach genügen."

Der Kommandant

von Jürg Amann
Seitenzahl:
296 Seiten
Genre:
Sachbuch
Verlag:
Arche
Bestellnummer:
978-37160-2639-7
Preis:
14,00 €

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur - Das Journal | 17.01.2011 | 22:30 Uhr

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