Hansemuseum Lübeck: Ehrenamtliches Engagement für die Wissenschaft
Das Ehrenamt ist aus der Kulturwelt kaum wegzudenken, dabei gibt es viele unterschiedliche Möglichkeiten sich einzubringen. So wie beim Citizen-Science-Projekt "Hanse.Quellen.Lesen!" in Lübeck. Dabei transkribieren Ehrenamtliche mit Hilfe einer Software Handschriften aus der Hansezeit, um historische Texte in moderne Schrift zu übertragen.
Es ist ein warmer und sonniger Donnerstagnachmittag im Mai. Während andere zu dieser Zeit vermutlich schon im Freibad liegen, schalten sich "ehrenamtliche Transkribierer" aus ganz Deutschland in einer Zoom-Konferenz zusammen. Sieben Teilnehmer und zwei Mitarbeiterinnen der Forschungsstelle für die Geschichte der Hanse und des Ostseeraums, die am Europäischen Hansemuseum in Lübeck angesiedelt ist, sind heute dabei. Sie alle engagieren sich beim Citizen-Science-Projekt "Hanse.Quellen.Lesen!".
Die historisch Interessierten übertragen mit Hilfe der Software "Transkribus" Handschriften aus der Hansezeit in moderne Schrift - die sogenannten Hanserezesse sind Beschlüsse der Vertreter der Hansestädte, die jeweils am Ende ihrer Versammlungen aufgeschrieben wurden. Sie sind zentrale Quellen zur Erforschung der Hansegeschichte, erläutert die Leiterin der Forschungsstelle, Angela Huang. Weil es dabei immer wieder Herausforderungen gibt, treffen sie sich alle zwei Wochen zum digitalen Austausch.
Keine Vorkenntnisse nötig
Selbst Profis könnten nicht immer alles entschlüsseln, versichert Huang. Wichtig sei, dass man Freude an der Quellenarbeit und Lust am Knobeln beim Erkennen der Buchstaben mitbringe. Heute fängt Gabriele Sander an, ihre Fortschritte der vergangenen Wochen vorzustellen. Sie ist aus Bonn zugeschaltet und hat sich innerhalb eines Jahres ohne besondere Vorkenntnisse in die Arbeit eingefuchst. Dazu habe sie ihr Interesse für Geschichte motiviert.
Aktuell bearbeitet sie gerade ein Dokument aus dem Jahr 1588. Es geht um Zölle zwischen verschiedenen Parteien und Ländern, sowie die Frage, wer was zu zahlen hat. Auf den ersten beiden Seiten hatte die Rentnerin keine Schwierigkeiten mit der Transkription: "Im Nahmen der heiligen Drejfaltigkeit Amen", beginnt das in einer verschnörkelten Handschrift verfasste Dokument. Doch auf Seite drei lauert die erste Herausforderung.
Historische Fakten helfen beim Verständnis
Ein Wort kann Sander partout nicht entziffern, schildert sie der Gruppe, die sich die Schrift nun auf einem geteilten Bildschirm genauer anschaut: "Der letzte Buchstabe ist ein 't', davor könnte ein 'e', 'w' oder 'r' stehen, wegen der vielen Kringel", grübelt Sander. In diesem Fall kann Gruppenleiterin Vivien Popken, wissenschaftliche Mitarbeiterin am FGHO, die das Projekt "Hanse.Quellen.Lesen!" betreut, schnell helfen: "berahmet" stehe dort, sagt sie. Lässt sich ein Buchstabe partout nicht entziffern, so können die Ehrenamtlichen sich zunächst die Buchstaben aus anderen Worten anschauen oder versuchen, den Kontext zu verstehen. Dafür zieht Heinrich Wiechell noch ein paar historische Fakten aus dem Ärmel.
Ehrenamtliche brennen für Geschichte
Wiechell ist einer der weiteren ehrenamtlichen Teilnehmer - er wohnt ganz in der Nähe von Lübeck, hatte schon in der Schule erste Berührungen zur Hansegeschichte und brennt offensichtlich für das Thema. Für ihn gehöre es zum Selbstverständnis, die Stadtgeschichte besser zu verstehen. Außerdem wolle er gerne eine breitere Masse für die Hansegeschichte begeistern, erläutert er seine Motivation. Gemeinsam macht sich die Gruppe am nächsten Problemfall zu schaffen: ein Eigenname! Namen seien grundsätzlich schwierig, so Wiechell, da könne man gelegentlich auch danebenliegen.
Denn auch hier haben die Ehrenamtlichen mit der stark geschwungenen Schrift des Schreiblings zu kämpfen. Deswegen kontrollieren sie Personenverzeichnisse, Namenskarten und die Lübecker Ratslinie im Internet. Eine kniffelige Aufgabe für das Team, die sich nicht final lösen lässt - nach einigen Minuten des Abwägens und Recherchierens wird aus Herrn Johann Ludirgkhusen - Herr Ledingkhusen. Lassen sich Worte nicht zweifelsfrei entschlüsseln, so kann man das in der Transkriptionssoftware entsprechend markieren. Das sei besser, als etwas Falsches einzutragen.
Citizen Science: Bürgerinnen und Bürger unterstützen Wissenschaft
Einige Stellen sind schneller geknackt. So bringt sich auch Inga Guttzeit ein. Sie sei Hobby-Genealogin und engagiere sich zudem bei Citizen Science in der NS-Euthanasie-Forschung, sagt sie. Alte Handschriften zu lesen, sei sie daher gewohnt. Auf das Lübecker Projekt sei sie bei der Nacht der Museen gestoßen, berichtet Guttzeit. Grundsätzlich finde sie es unterstützenswert, dass Bürgerinnen und Bürger der Wissenschaft helfen und umgekehrt.
Bunt gemischte Truppe - unterschiedliche Stärken und Interessen
Auch Helmut Henninghausen aus Kassel gehört zu der bunt gemischten Truppe. Er ist Hausarzt im Ruhestand und interessiert sich für historische Online-Kurse. Er nehme es als spannende Herausforderung wahr, Dokumente zu entschlüssln und dem Leser nahezubringen, sagt er. Ulrich Müller ist pensionierter Orthopäde und hat nach seinem Arbeitsleben noch Geschichte studiert. Er will sogar noch einmal den Sprung in die Archivarbeit schaffen - also sozusagen auf die "andere Seite" der Arbeit, welche die Ehrenamtlichen aktuell unterstützen.
Auch Kristina Russ profitiert von dem digitalen Angebot - seit einer Covid-Erkrankung ist sie lungenkrank und sei dann durch verschiedene digitale Angebote des EHM zur Hanseforschung gekommen, berichtet sie. Zu Beginn habe es teilweise Stunden gedauert, eine Zeile zu lesen, erinnert sie sich zurück - es sei sehr anstregend gewesen. Mittlerweile ist sie im fünften Jahr dabei und konnte daraus sogar eine freiberufliche Tätigkeit aufbauen. "Ich freue mich jedes Mal, wenn der Computer angeht, dass es wieder losgeht. Es gibt einfach so viel zu entdecken", sagt sie.
Und auch Gerhard Szperalski ist von Anfang an und mit großer Freude dabei. In seiner beruflichen Laufbahn beim WDR habe der Musiker über 40 Jahre viele musikalische Biografien erforscht. Nun freut er sich über die neue Herausforderung in Lübeck, Handschriften aus dem Archiv zu entziffern. Ehrenamtliches Engagement - es darf also ruhig Spaß machen.
Wertvoller Beitrag zur Hanseforschung
Nach rund einer Stunde geht die Sitzung aufs Ende zu. Neue Aufgaben werden verteilt. Die Ehrenamtlichen können dabei so viel oder so wenig übernehmen, wie es bei ihnen aktuell passt. Jeder Beitrag ist wertvoll! Vivien Popken hat dabei auch den Umfang und den Schwierigkeitsgrad der einzelnen Dokumente im Blick. Dank des Engagements der Ehrenamtlichen konnten bereits über 1.500 Seiten aus dem 16. und 17. Jahrhundert transkribiert werden. Sie stehen sowohl Forschenden als auch allen anderen Interessierten online zur Verfügung, was laut Auskunft des EHM einen wichtigen Beitrag zur Hanseforschung darstellt.