Europa am Abgrund - Das Schreckensjahr 2022
Wenn man über 2022 spricht, ist oft von einem "schrecklichen Jahr" die Rede. Dennoch gibt es auch ein paar kleine Hoffnungsschimmer beim Blick nach vorn, meint der Politikwissenschaftler Albrecht von Lucke.
"Gestern standen wir am Abgrund, heute sind wir schon einen Schritt weiter." Dieser Sponti-Spruch der 1980er-Jahre könnte wohl der passende Kommentar zum Ende dieses Jahres sein. Wohlgemerkt, er könnte es sein, wenn uns nicht die Ironie vor zehn Monaten, mit dem Beginn von Putins Angriffskrieg gegen die Ukraine am 24. Februar, brutalstmöglich ausgetrieben worden wäre.
Allzu oft war in der Vergangenheit von einem "annus horribilis" die Rede, doch das Horrorjahr 2022 stellte - jedenfalls aus europäischer Sicht - die vorangegangenen Jahre klar in den Schatten.
Unsere vierfache Abhängigkeit
Als vor drei Jahren die Coronakrise begann, wurde diese umgehend als die größte Herausforderung nach 1945 begriffen. Heute sehnen sich viele fast schon in diese Zeit zurück. Deutlicher könnte nicht zum Ausdruck kommen, wie radikal der 24. Februar die Zeit in ein Davor und Danach teilt. Mehr denn je seit Ende des Zweiten Weltkriegs steht Europa am Abgrund. Mit seinem Bombenterror zerstört Russland nicht nur ganz systematisch die Existenzgrundlage der Ukraine, sondern es versucht damit auch, den Zusammenhalt des Westens und speziell der EU zu untergraben, insbesondere durch die dadurch ausgelöste Migration und Energiekrise.
Faktisch hat uns das Jahr 2022 unsere gleich vierfache Abhängigkeit schlagend verdeutlicht: erstens energiepolitisch von Russland, zweitens militärpolitisch von den Vereinigten Staaten, drittens industriepolitisch von China und viertens ökologisch von globalen Natur- und Klimabedingungen, die von einer expansiven Wirtschaftsweise immer mehr zerstört werden. All das verursacht eine zunehmende Radikalisierung - und zwar außen- wie innenpolitisch.
Es hätte alles noch viel schlimmer kommen können
Doch immerhin gibt es zum Jahreswechsel auch einige kleine Lichtblicke. Diese beschert uns das kontrafaktische Denken - zeigt es doch, dass alles noch weitaus schlimmer hätte kommen können.
Wäre die Ukraine nach dem Putin-Schock nicht zu ihrer Verteidigung in der Lage gewesen, aufgrund des ungeheuren Mutes der Menschen, aber auch dank der US-amerikanischen Ausbildung und Aufrüstung seit 2014, dann stünde Russland heute an der polnischen Grenze, dann gäbe es wieder eine harte Grenze zwischen Westen und Osten wie zu Zeiten des Kalten Krieges.
Zugleich besäße die schon am 4. Februar, 20 Tage vor Beginn des Krieges, von Xi Jinping und Putin verkündete grenzenlose Freundschaft der Autokraten weltweite Ausstrahlung. Keine Rede wäre dann von einer Isolation Russlands dank der Distanzierung wichtiger Staaten, wie auf dem jüngsten G20-Gipfel in Bali geschehen. Stattdessen würden sich die entscheidenden Mächte in der zweiten Reihe - Indien, Indonesien, Brasilien und Südafrika -, eindeutig gen China und Russland orientieren. Denn noch immer sind es die Sieger, die die Geschichte schreiben. So aber bleibt - angesichts der jüngsten ukrainischen Rückeroberungen - mit Blick auf 2023 die leichte Hoffnung, dass die russische Eskalation gestoppt und vielleicht doch noch Frieden geschlossen werden könnte.
Und wenn nicht Donald Trump bei den jüngsten Zwischenwahlen in den Vereinigten Staaten massiv an Zustimmung verloren und den Republikanern eine gewaltige Führungsdebatte beschert hätte, stünde heute mit Sicherheit Joe Biden, der mittlerweile 80 Jahre alte US-Präsident, im Zentrum der Kritik - und damit zugleich die Frage im Raum, ob bei der Präsidentschaftswahl 2024 das autoritäre Comeback überhaupt noch zu verhindern ist. Stattdessen diskutiert Amerika jetzt über eine mögliche Anklage gegen Trump, die der Ausschuss zur Untersuchung des Sturms auf das US-Kapitol soeben empfohlen hat. Eine Verurteilung Trumps hätte dessen Ausschluss von jedem Staatsamt zur Folge.
Die Radikalisierung der ökologischen Krise
Und schließlich drittens: Hätte nicht Lula da Silva mit hauchdünnem Vorsprung die Wahl in Brasilien gegen Jair Bolsonaro gewonnen, wäre dies ein Verhängnis für die Zukunft des Regenwalds und damit auch für die ökologische Zukunft des Planeten.
Das nämlich verweist auf die - neben dem Ukraine-Krieg - zweite dramatische Entwicklung des Jahres 2022: die Radikalisierung der ökologischen Krise, die immer mehr Richtung Katastrophe tendiert. "Wir sind auf dem Highway zur Klimahölle - mit dem Fuß auf dem Gaspedal", sagte UN-Generalsekretär António Guterres in seiner Eröffnungsrede auf der Weltklimakonferenz COP27. "Wir kämpfen den Kampf unseres Lebens - und sind dabei zu verlieren", so seine ultimative Warnung.
Und dennoch konnte von überzeugenden Ergebnissen 2022 keine Rede sein, im Gegenteil: Genau wie auf dem Bio-Diversitätsgipfel zum Erhalt der Artenvielfalt verhinderte auch auf dem Klimagipfel nationalstaatlicher Egoismus eine überzeugende globale Lösung. So aber rückt das 1,5-Grad-Ziel von Paris in immer weitere Ferne.
"Letzte Generation": Eine Bewegung konterkariert ihr eigenes Anliegen
Diese dramatische Lage spiegelt sich in einer zunehmenden Polarisierung auch innerhalb der Gesellschaften - und in einer immer verzweifelteren Klimabewegung. Diese ist in den letzten Monaten vor allem durch die Aktionen der "Letzten Generation" in Erscheinung getreten. Doch so berechtigt deren grundsätzliches Anliegen ist, nämlich die Verhinderung der Klimakatastrophe, so fatal in ihrer Wirkung sind die durchgeführten Aktionen, insbesondere die gefährlichen Blockaden von Straßen oder gar Flughäfen. Eine Bewegung, die für sich in Anspruch nimmt, Mensch und Natur retten und bewahren zu wollen, konterkariert ihr eigenes Anliegen, wenn sie die Gefährdung von Menschenleben in Kauf nimmt - und verspielt so immer mehr die eigentlich ja vorhandene Zustimmung in der Bevölkerung zu einer intensiveren Klimapolitik.
Ja, mehr noch: Die Gegenseite nimmt diese Steilvorlage dankbar auf. So malt etwa CSU-Landesgruppenchef Alexander Dobrindt bereits eine angeblich drohende "Klima-RAF" an die Wand. Hier zeigt sich: Während sich der radikale Teil der Klimabewegung durch seine nicht vermittelbaren Aktionen selbst delegitimiert, betreiben seine Gegner eine rhetorische Aufrüstung, die zunehmend selbst zur Tat gegen die liberale Gesellschaft drängt.
Denn weit mehr als auf dem linken gibt es auf dem rechten Flügel eine echte Tendenz zum Extremismus. Das zeigt die jüngste Aufdeckung einer Verschwörung der sogenannten Reichsbürger, die offenbar sogar zu einem militärischen Staatsstreich bereit waren.
Wer dagegen die Klimaaktivisten zu Extremisten oder gar Terroristen abstempelt, verengt den demokratischen Denk- und Diskursraum und unterdrückt damit ganz gezielt die notwendigen Debatten.
Die Reichsten schädigen die Umwelt am meisten
Tatsächlich wird es 2023 darauf ankommen, die globale Klimakrise endlich in ihrer ganzen Radikalität zur Kenntnis zu nehmen. Andernfalls werden die kommenden Klimagipfel ähnlich ergebnislos enden wie die letzten.
Bisher werden dort die Emissionswerte nur national verglichen und verhandelt. Dabei hat bereits 2020 ein Bericht von Oxfam gezeigt, dass die reichsten zehn Prozent der Weltbevölkerung, ganz unabhängig von ihrer Nationalität, für über die Hälfte der Emissionen verantwortlich sind - und dass das reichste eine Prozent das Klima doppelt so stark schädigt wie die ärmere Hälfte der Menschheit zusammen. Die Frage des Ressourcenverbrauchs entpuppt sich damit als die zentrale Gerechtigkeitsfrage, die über die Zukunft des Planeten und der kommenden Generationen entscheidet.
Insofern trifft die Beweislast, wie der Katastrophe doch noch Abhilfe zu schaffen wäre, diejenigen, die dem herrschenden kapitalistischen Konsum- und Wachstumsmodell das Wort reden, das uns die dramatische Krise doch gerade erst beschert hat. Im Kern geht es um die eine entscheidende Frage: Akzeptieren wir endlich die notwendige Begrenzung unserer individuellen Konsumfreiheit, die der Club of Rome bereits mit Erscheinen seiner epochalen "Grenzen des Wachstums" vor 50 Jahren anmahnte, oder akzeptieren wir sie nicht - koste es, was es wolle, und zwar immer und zuerst die Ärmsten und Verletzbarsten.
Über solch grundsätzliche Fragen muss in diesem Jahr unbedingt offen diskutiert werden können, ohne dass daraus bereits eine angebliche Systemgegnerschaft oder gar der Weg in die Ökodiktatur gemacht wird. Denn eine derartige rhetorische Aufrüstung steht in einer fatalen Tradition.
Offene Debatte statt rhetorische Aufrüstung
Im vergangenen Jahrhundert gab es zwei Epochen radikaler Polarisierung: erstens die langen 1920er-Jahre der Weimarer Republik, die vor bald 90 Jahren, am 30. Januar 1933 mit der Machtübergabe an die Nationalsozialisten endeten. Zum Glück sind wird von deren mörderischem Radikalismus weit entfernt. Dann gab es aber zweitens auch die kurzen 1970er-Jahre, das sogenannte Rote Jahrzehnt, das mit dem Terror der RAF im "Deutschen Herbst" 1977 zu Ende ging. Erst dann setzte auf der radikalen Linken schockartig die Besinnung ein.
Der linken Radikalisierung vorausgegangen war aber eine Phase maximaler Konfrontation und Verständnislosigkeit seitens der Konservativen gegenüber der jungen Generation. Dadurch wurde die Polarisierung in der Gesellschaft immer mehr verstärkt.
Es wäre daher verheerend, wenn heute wieder treibende Kräfte in der Gesellschaft diesen Weg einschlagen würden. Eine solche, immer radikalere Polarisierung gilt es unbedingt zu vermeiden. An die Stelle rhetorischer Aufrüstung muss daher endlich eine offene Debatte auch mit dem politischen Gegner treten. Nur so werden wir vielleicht doch noch auf dem "Highway zur Klimahölle" rechtzeitig abstoppen. Und wenn es dann auch noch in der Ukraine im kommenden Jahr endlich zu einem Waffenstillstand käme, dann ließe sich ja vielleicht sogar am Ende von 2023 doch noch sagen: "Gestern standen wir am Abgrund, heute sind wir wieder einen Schritt zurückgetreten." Insofern gilt hier und heute ganz besonders die Devise: Die Hoffnung stirbt zuletzt - auch und gerade am Ende eines solchen Horrorjahres.