"Die Datenlücke ist schockierend, weil sie Frauen schadet"
"Wir müssen Frauen sichtbar machen" - das ist der Appell der britischen Autorin Caroline Criado-Perez. Sie hat für ihr Werk "Unsichtbare Frauen" 2020 den NDR Kultur Sachbuchpreis erhalten.
Frau Criado-Perez, dass Frauen im 21. Jahrhundert benachteiligt sind, ist nicht überraschend - und dennoch war auch ich über vieles erstaunt, was Sie in Ihrem Buch zusammengetragen haben über die Datenlücke, die Frauen nicht berücksichtigt und ihnen sogar schadet. Wie sind Sie überhaupt auf die Idee gekommen, das Buch "Unsichtbare Frauen" zu schreiben - gab es einen Auslöser dafür?
Criado-Perez: In meinem Kopf hatte sich bereits eine Zeitlang diese These entwickelt - nachdem ich registriert hatte, dass Männer als der Standard, als die Norm behandelt werden. So, als seien Männer - ohne dass man das realisiert - eine irgendwie geschlechtsneutrale Version der Menschheit. Ich habe festgestellt, dass viele Dinge an Männern orientiert entworfen werden - und dass dies Frauen benachteiligt. Und dann habe ich gelesen, welche medizinischen Erkenntnisse es zu Herzinfarkten gibt: Frauen haben dabei nicht dieselben Symptome wie Männer - und deshalb werden Herzinfarkte bei ihnen seltener von Ärzten erkannt als bei Männern. Diese Erkenntnis war schockierend für mich - denn es ist das eine, Diskriminierung in der Politik festzustellen; es ist aber das andere, festzustellen, dass der weibliche Körper in der Medizin nicht so studiert wird wie der männliche. Es war schockierend, dass ich - eine feministische Aktivistin, die sehr gut über Diskriminierung informiert ist - dies vorher nicht wusste! Ich fand, das sollte jeder wissen, das sollte auf der Titelseite jeder Zeitung stehen.
Sie haben einmal drastisch gesagt: "Die Datenlücke macht Frauen ärmer, kränker und tötet sie." Können Sie ein Beispiel nennen?
Criado-Perez: Das klassische Beispiel ist das Design von Autos. Lange Zeit war es so, dass der einzige Crashtest-Dummy, den es gab und der verwendet wurde, auf der Körperform des durchschnittlichen amerikanischen Mannes beruhte. Offensichtlich entspricht dieser Körper nicht dem der durchschnittlichen Frau, weder der amerikanischen noch sonst einer. Ich finde es faszinierend, dass jemand denkt, dass der durchschnittliche Mann dem durchschnittlichen Menschen entspricht. Im Ergebnis sind Autos so gestaltet, dass sie bei Unfällen gefährlicher sind für Frauen. Die sitzen zum Beispiel meist nicht in der Standardsitzposition - der Standard ist hier wieder der Mann -, sondern weiter vorne. Damit hat eine Frau ein höheres Verletzungsrisiko bei Frontalzusammenstößen. Auch die Gurte sind nicht an die Brüste von Frauen angepasst, auch nicht an Hochschwangere. In der Folge all dieser Dinge haben Frauen eine 47 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit bei einem Unfall schwer verletzt zu werden und eine 17 Prozent höhere Wahrscheinlichkeit zu sterben als Männer.
Mir ging es beim Lesen so, dass ich mal mit dem Kopf nickte und mal den Kopf schüttelte - weil ich es so frappierend und auch frustrierend fand, wo überall Frauen das Nachsehen haben. Wie konnte es eigentlich so weit kommen?
Criado-Perez: Es ist schlicht schon immer so gewesen - und das liegt daran, dass sehr lange Männer das Sagen hatten. Es ist nicht so, dass die Männer die Frauen hassen und deshalb Dinge tun, um ihnen zu schaden. Nein, es ist eine Frage der Perspektive: Männer haben Produkte so entworfen, wie es ihnen sinnvoll erschien - aus ihrer männlichen Sichtweise. An der Macht waren sehr lange fast nur männliche Körper, männliche Stimmen und männliche Perspektiven. Und leider ist dies immer noch reflektiert in der Art und Weise, in der wir Daten sammeln und analysieren. Diese Daten berücksichtigen nicht ausreichend, wie Frauen sind und was sie tun - das heißt, wir sammeln Daten immer noch nicht so, dass wir zutreffende Ergebnisse bekommen.
Woran liegt es aber, dass Frauen auch heute noch in vielen Studien, in der Forschung, bei der Entwicklung von Produkten unterrepräsentiert sind? Liegt es daran, dass wir Frauen selbst noch zu wenig auf unsere Bedürfnisse aufmerksam machen? Oder liegt es am mangelnden Problembewusstsein der Männer - oder gar an ihrer Ignoranz?
Criado-Perez: Es ist eine Mischung von allem: Männer realisieren das Problem nicht - und sie realisieren nicht, dass wir keine oder zu wenig Daten über Frauen haben und erheben. Es klingt vielleicht langweilig und akademisch, aber wir müssen endlich Regeln festlegen, wie wir Daten erheben und wie wir sie analysieren. Jemand muss darüber entscheiden, und das ist immer eine subjektive Entscheidung. Wir denken, dass Daten einfach existieren, dass sie objektiv sind, neutral. Aber das ist nicht der Fall - auch Daten sind ein Produkt, das wir schaffen. Und Menschen treffen subjektive Entscheidungen, um Daten zu sammeln und zu bewerten. Und wenn man sich all die Beispiele ansieht, wo Frauen vergessen werden in den Daten, dann belegt das, dass wir die Stimmen von Frauen noch nicht genug hören.
Der NDR Kultur Sachbuchpreis ist nicht der erste Preis, mit dem Ihr Buch ausgezeichnet wird: Sie haben in Großbritannien bereits den Royal Society Science Book Prize und den Financial Times Business Book of the Year Award gewonnen - und standen auf Platz 1 der Sachbuch-Bestsellerliste der "Sunday Times". Hat es Sie selbst überrascht, auf welche Resonanz Sie mit Ihrem Thema und Ihrem Buch gestoßen sind?
Criado-Perez: Ja, ich war schon überrascht. Ich hatte erwartet, dass manche Leute das Buch wirklich mögen würden, aber auch, dass viele es hassen würden. Ich war sehr nervös, während ich es geschrieben habe - weil ich darüber nachgedacht habe, wie Leute reagieren würden, die meine Arbeit diskreditieren wollen. Also habe ich versucht, meine Argumentation so wasserdicht wie möglich zu machen und alle Fakten mehrfach zu checken. Ich wollte mit meinem Buch auch die Menschen erreichen, die Feminismus vielleicht nicht verstehen oder damit nicht übereinstimmen. Und ich wollte, dass sie sich nicht in der Defensive fühlen - denn damit haben wir es oft zu tun, wenn wir über feministische Themen debattieren: dass manche denken, ihnen werde vorgeworfen, sie seien ein schlechter Mensch. Ich wollte klarmachen, dass es mir nicht darum geht - sondern darum, aufmerksam zu machen auf Fehler im System. Und deshalb freut es mich, dass das Buch auch so wahrgenommen wurde - dass ich aufdecke, welche Schwächen unser System hat.
Das Interview führte Stephanie Pieper.