Eine Begleiterin führt eine blinde Frau mit einer Blindenbinde auf einem Fußweg © picture-alliance/ ZB Foto: Arno Burgi

Der Wert der Selbstbestimmung - Leben zwischen Autonomie und Abhängigkeit

Stand: 04.02.2023 06:00 Uhr

Im Alter von 30 Jahren ist die Theologin und Schriftstellerin Susanne Krahe infolge einer Diabeteserkrankung erblindet. Aus diesem eigenen Erleben heraus entstand im November 2016 der nachfolgende Essay.

von Susanne Krahe

Heute kann ich darüber lachen. Kurz nach meiner Erblindung fiel es mir allerdings schwer, das Entsetzen einer Bekannten gelassen hinzunehmen: "Jetzt kannst Du ja gar nicht mehr Auto fahren!", hatte sie gerufen, als ich ihr sagte, ich hätte mein Augenlicht verloren. Was für ein Kommentar! Aber wenn es etwas gibt, das blinde Menschen gar nicht erst versuchen sollten, dann ist es das Lenken eines fahrbaren Untersatzes.

Allerdings ist der Verlust der Fahrtüchtigkeit eines der weniger grundstürzenden Probleme frisch erblindeter Menschen. Innerhalb von wenigen Wochen hatte meine Welt sich nicht nur dem leuchtenden Grün und Rot von Verkehrsampeln entzogen, meine Welt hatte sich auch auf den Kopf gestellt. Wo waren Unten und Oben geblieben, wo steckten Vorwärts und Rückwärts, wo fing ich an, wo hörte ich auf? Meine T-Shirts drehten sich hämisch von rechts auf links, wenn ich sie über den Kopf zog, und meine Finger mühten sich minutenlang ab, den linken Schuh vom rechten zu unterscheiden. Tasten lernen. Spüren, schnuppern, Hautnähe suchen. Erst nach einigem Zögern besannen sich meine Finger auf die eingespielte Routine, mit der sie immer schon blind eine Schleife zustande gebracht hatten. Es gab unzählige Irritationen. Die Welt zeigte sich feindlich. Meine Nase atmete angestrengt unter den Zumutungen eines allgegenwärtigen Gestanks, und meine Ohren schrien nach Lärmschutz. Die Atemluft schmeckte bitter. Wer denkt in diesem Chaos ans Autofahren?

Die Reaktion meiner Bekannten signalisierte mir unmissverständlich, dass ich auf der gefährlichen Klettertour, die mir bevorstand, nicht mit ihrer Begleitung rechnen durfte. Wem zu dem Untergang einer Welt nichts weiter einfällt als ihre Entmotorisierung, der packt sich für eine Bergwanderung vermutlich auch Lackschühchen in den Rucksack. Zum Glück fand ich dennoch eine verlässliche Seilschaft. Meine Krankengymnastin bot mir an, mich auf einen Wochenendausflug nach Hamburg mitzunehmen; Besuch im Musical, Stadtrundfahrt, Teestunde in einem großen und auch noch berühmten Hotel. Dieses Angebot duftete nach neuem Leben. Wir hätten natürlich den Zug nehmen können. Aber mir fiel eine andere Möglichkeit ein: "Könnten Sie uns in meinem Auto fahren?"

Niemand ist gern abhängig

Auto. Nicht zufällig ist das auch die Vorsilbe von "Autonomie". Das Automobil ist zum Sinnbild des selbst-ständigen, selbst-gesteuerten, selbst-bestimmten, selbst-verwirklichten, selbst-zentrierten Menschen geworden. Der Führerschein gilt als Meilenstein auf dem Weg zur erwachsenen Identität. Wer bei der Fahrprüfung durchfällt, kann angeblich den wichtigsten Teil seiner Freiheiten nicht verwirklichen. Die Fahrerlaubnis zu verlieren, hinterlässt entsprechende Kratzer im aufpolierten Selbstbild, und wer sie aus Altersgründen an die Behörde zurückgibt, leistet Selbstverzicht. "Jetzt kannst du ja gar nicht (mehr) Auto fahren!" Diese Feststellung schiebt blinde und andere Menschen mit Behinderungen, die sich, wenn überhaupt, allenfalls noch auf ihren eigenen Beinen durch die Welt bewegen können, für immer auf den Beifahrersitz ihres Lebens.

Machen wir uns nichts vor: Niemand ist gern abhängig. Für manche Zeitgenossinnen wird die Vorstellung der Angewiesenheit - auf die eigenen Kinder oder Eltern, auf Pflegerinnen und Betreuer - nahezu zur Horrorvision. Unter der Bedingung des Autonomie-Verlustes will man sich lieber gleich selbst abschaffen. Denn wer sich aus eigener Kraft nicht mehr von einem Ort zum andern bewegen kann, wer ohne fremde Hilfe nicht mehr die Toilette findet, sondern geführt, geleitet, geschoben oder gar getragen werden muss, der droht, sich zum Klotz an den flinken Beinen der Anderen zu entwickeln. Niemand will zur Last fallen. Und bevor das Selbst die Kontrolle über das eigene Dasein ganz verliert, wird der Suizid als dickes, letztes Ausrufungszeichen in die Welt gesetzt; ein Spiel, in dem man noch einmal selbst die Regeln bestimmt. Manchmal hilft schon der Gedanke, dass die Freiheit zum Sterben noch zur eigenen Verfügung bleibt, über die Abgründe von Depressionen hinweg. Bei mir jedenfalls war es so.

Unser Menschsein beruht auf Beziehungen

Anspruch und Recht auf Selbstbestimmung werden in dem Moment fraglich, wo das Bild des autonomen Menschen durch einen Hinweis auf seine quasi naturgegebene Angewiesenheit Risse bekommt. An den Rändern des Lebens, dort, wo es in die Welt hinein und wieder heraus geht, sind wir zur Passivität verurteilt, zum Zulassen und Loslassen. Spätestens bei Geburt und Tod müssen wir Anderen die Kontrolle übergeben.

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Abhängigkeit und Begrenzungen bestimmen also nicht nur das Leben von Menschen mit Behinderungen, sondern das Menschsein überhaupt. Jeder und jede lebt von Vorgaben, alle fahren andauernd Ernten ein, die wir weder gesät, noch angepflanzt haben. Wir erschaffen uns nicht. Unser Menschsein beruht auf Beziehungen, heute auch "Netzwerke" genannt. Doch ist das mehr als eine Binsenweisheit?

Das Dumme ist nämlich, dass Herr und Frau, jeder Mensch sich die existenziellen Grundbedürfnisse ohne fremde Hilfe erfüllen können, während der Mensch mit Behinderung getränkt, gefüttert, vielleicht sogar beatmet werden muss, um zu überleben. Das Vorhandene, das allen Gegebene, ist nicht allen gleich zugänglich. Ein Mensch mit eingeschränkter Kraft braucht jemanden, der ihm die Schnabeltasse anreicht. Was, wenn dieser Jemand gerade keine Lust auf Barmherzigkeit, oder schlicht Feierabend hat? Was, wenn er überschwänglichen Dank oder endloses Betteln erwartet, bevor er sich gnädig zeigt? Was, wenn er sich die Freiheit nimmt, das Quantum seiner Hilfsbereitschaft nicht nach dem Bedarf seines Schutzbefohlenen zu dosieren, sondern nach den eigenen Bedürfnissen?

Ohnmachtserfahrungen minimieren, Stärken hervorheben

Ein unbestreitbares Gefälle zwischen Mächtigen und Entmachteten muss überall dort geregelt werden, wo "unser aller Angewiesenheit" sich in asymmetrischen Verhältnissen konkretisiert. Zwischen Helfern und Hilfsbedürftigen besteht ein Gefälle, das weder geleugnet, noch nivelliert werden kann, aber es darf nicht dazu führen, dass der weniger Angewiesene dem mehr Angewiesenen seine Maßstäbe aufzwingt. Es darf dem objektiv Unterlegenen nicht sein Subjektsein bestreiten. Ob jemand Person ist, entscheidet sich nämlich weder an seiner Intelligenz, noch seiner Qualifikation, noch seiner Ansehnlichkeit oder sonst wie erreichten Position auf der Leiter gesellschaftlicher Akzeptanz. Es hängt allein von der jedem Menschen zugeeigneten Menschenwürde ab.

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"Empowerment" ist einer der wichtigsten Leitbegriffe heutiger Behinderten-Pädagogik. In diesem Ermächtigungsprozess sollen die Ohnmachtserfahrungen von Entmachteten minimiert und ihre eigenen, oft übersehenen oder vergessenen Stärken aus der Versenkung gehoben werden. Ziel ist die größtmögliche Autonomie von Menschen mit Behinderungen, auch wenn es in den meisten Fällen weltfremd wäre, deren Angewiesensein abschaffen zu wollen. Realistisch dagegen ist die Vorstellung, dass ein grundsätzlich abhängiger Mensch sich nicht fremdbestimmt fühlt, und ein erster Schritt in diese Richtung scheint mir die Möglichkeit zu sein, sich seine Begleiter selbst aussuchen, oder sie wenigstens selbst ablehnen und austauschen zu können, wenn er sie gleichsam als Diktatoren erlebt. Seine Rolle beschränkt sich somit keinesfalls auf passives Erleiden.

Bitten lernen. Brauchen lernen. Urvertrauen aktivieren. Die fremde Hand, die die Splitter zusammenfegt, nachdem meine Glasflasche abgestürzt und in tausend Scherben zersprungen ist; die Ellenbeuge, in die ich beim Spazierengehen meine Finger lege, um mich führen zu lassen; Augen, die Werbeprospekte von meinen persönlichen Briefen unterscheiden; einen klügeren Kopf als den eigenen, der meinen sprechenden Computer zum Leben erweckt, wenn der sich tot stellt und schweigt. Assistenzen. Oder Betreuerinnen, Krankenschwestern, Sekretärinnen. Oder Sklavinnen? Aufseherinnen? Freunde? Wenn ich auch selbst nie mehr Auto fahren kann, so will ich doch auch vom Beifahrersitz meines Lebens aus an der Festlegung von Fahrtrichtung, Reisezielen, Gangart, Tempo und Routen beteiligt sein.

Ein Drahtseilakt zwischen Nähe und Distanzierung

Jedem Menschen, der sich wie ich eines Tages schweren Herzens dazu durchringen muss, seine Selbstständigkeit an den Nagel zu hängen, kann ich nur empfehlen, sich dafür mehrere Nägel und ein paar elegante Kleiderhaken auszusuchen. Nur die Freundin, nur die Sekretärin, nur die Haushaltshilfe, das viel beschworene Mädchen für alles bräche ganz schnell unter den übersteigerten Erwartungen zusammen.

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Eine Putzfrau ist ungeeignet, der blinden Chefin Konto-Auszüge oder ihre persönlichen Briefe vorzulesen. Umgekehrt müssen Freundinnen nicht unbedingt gebeten werden, die Blinde auf den Wochenmarkt zu führen, oder ein Rezept vom Arzt abzuholen.

Grenzen setzen. Zuständigkeiten unterscheiden. Es gibt unbezahlbare und bezahlte Begleiterinnen. Es gibt Freundschaftsdienste und Dienstleistungen, intime Verrichtungen und sachliche Aufgaben, es gibt den kleinen Gefallen, und es gibt die berechnende Manipulation. Leider sind diese Unterscheidungen in der Praxis schwieriger zu treffen, als sie sich in der Theorie heruntertippen lassen. In dem Vierteljahrhundert, das ich nun schon anderen Leuten am Arm hänge, habe ich auf diesem Drahtseil zwischen Nähe und Distanzierung Tanzen geübt, bin aber oft genug auch abgestürzt.

An guten Tagen zeige ich mich überzeugt, dass ich mich an meine Abhängigkeiten gewöhnt habe und froh bin, nicht mehr so viele Berührungsängste zu haben wie früher. An mittelguten Tagen freue ich mich darüber, die meisten Verluste, die frau erst im Alter erlebt, schon früher kennengelernt zu haben. Mich kann nicht mehr viel erschrecken. An schlechten Tagen balle ich die Fäuste und klage darüber, wie weit ein blinder Mensch von einem Leben in Autonomie entfernt bleibt, und wie verdammt anstrengend der Kampf um jeden Zentimeter Freiheit ist. Keine Spontaneität, sondern Organisation. Keine Intimsphäre, sondern Geheimniskrämerei und Tricksereien. Die beste Idee ist es wohl - frei nach Luther - als größte aller Freiheiten den Verzicht auf die absolute Freiheit zu erklären - auch wenn es schwerfällt.

Wiederholung der Sendung vom 27. November 2016

Dieses Thema im Programm:

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