Stand: 19.10.2018 18:22 Uhr

Das Hörspiel ist ganz nah am Roman

von Claudia Christophersen

Berlin ist in den späten 20er-Jahren die drittgrößte Stadt Europas - eine Metropole mit rauschenden Festen, mit Glanz und Glamour. Die Kehrseite sind Armut und Elend in den engen, feuchten Mietskasernen. Die sozialen Ungleichheiten werden massiver, Protest formiert sich und die fragile Weimarer Republik wankt. Es sind turbulente Zeiten in Berlin. Volker Kutscher erzählt davon in seinem Roman "Der nasse Fisch". Die Verfilmung ist gerade in der ARD unter dem Titel "Babylon Berlin" zu sehen. Für die vierteilige Hörspielfassung wurde der Originaltitel "Der nasse Fisch" beibehalten. Ab Mittwoch, dem 24. Oktober, wird sie auf NDR Kultur ausgestrahlt. Die Hörspielserie ist mit Meret Becker, Peter Lohmeier, Ulrich Noethen und vielen anderen hochkarätig besetzt. Die Bearbeitung hat Thomas Böhm übernommen.

Herr Böhm, was unterscheidet die Fernseh- von der Hörspielserie?

Der Autor Thomas Böhm posiert am 11.03.2015 in Köln vor der Verleihung des Deutschen Hörbuchpreises 2015 . © picture alliance / dpa Foto: Horst Galuschka
Thomas Böhm ist 2011 mit dem Deutschen Hörbuchpreis ausgezeichnet worden.

Thomas Böhm: Die Fernsehserie macht ja sehr freien Gebrauch von den Figuren und der Vorlage von Volker Kutscher. Um das jetzt mal versuchsweise in Prozent auszudrücken: Die Fernsehserie entspricht dem Roman zu fünfundzwanzig Prozent und wir sind ganz nah dran geblieben am Roman selber, bei den Figuren, bei den Handlungsverläufen und so weiter, weil es das unserer Meinung nach auch spannend macht. Es wäre sinnlos gewesen, ein Hörspiel zu einer Fernsehserie zu machen. Da haben alle Menschen ja schon die Bilder gesehen. Aber hier entsteht ein Spannungsmoment: Wie ist das in der Fernsehserie und wie war das im Original? Und das kann man eben erfahren, wenn man Hörspiel und Serie quasi parallel nebeneinander betrachtet.

Es ist eine besondere Zeit: Das Berlin der 20er-Jahre ist schillernd, widersprüchlich und facettenreich. Wie haben Sie diese besondere Stimmung ins Radio bekommen?

Böhm: Der Film hat es ja leichter, der kann die Atmosphäre mit den Kostümen und den Kulissen optisch schaffen. Das können wir beim Hörspiel nicht. Wir haben zum einen die Musik: Es gibt eine eigens für die Hörspielserie komponierte Musik, die vom WDR Rundfunkorchester aufwendig produziert worden ist. Man hört also wirklich die Wucht und auch die Lust, mit der das entstanden ist. Und zum anderen habe ich den Figuren ab und zu Zitate von zeitgenössischen Autorinnen und Autoren in den Mund gelegt: Da, wo es passt, fällt mal ein Zitat von Else Lasker-Schüler. Eine Figur erzählt eine Geschichte aus "Im Westen nichts Neues", aber so, als wäre ihr das selbst passiert. Wenn man da genau hinhört, gibt das auch einen kleinen Hinweis auf den weiteren Verlauf der Handlung. Eine andere Figur zitiert eine Schlüsselszene aus Irmgard Keuns "Das kunstseidene Mädchen". Also ich wollte, dass das Hörspiel hier und da auch eine Hommage an die Literatur der Zeit ist. Man muss diese Anspielungen nicht erkennen. Wenn sie sich einfügen, als wäre das ganz natürlich, dann erhöht das natürlich ein bisschen meinen Stolz, aber vor allen Dingen deshalb, weil es zeigt, wie gegenwärtig die Gedanken und Geschichten der Autorinnen und Autoren von damals für uns heute noch sind.

Es gibt ja viele Geschichten über Berlin: "Berlin Alexanderplatz" von Alfred Döblin als markantes Beispiel. Was hat sie persönlich an der Geschichte interessiert?

Böhm: ... in der Darstellung von Volker Kutscher, wenn ich ergänzen darf. Ich halte das Romanprojekt von Volker Kutscher für unglaublich wichtig. Es ist für mich auf Jahre und Jahrzehnte die wichtigste, weil populärste Darstellung des Übergangs der deutschen Gesellschaft von der Weimarer Republik in den Nationalsozialismus. Und zwar aus diesem Grund: Volker Kutschers Personal besteht aus Menschen ganz unterschiedlichen Hintergrunds - da sind Journalisten, da sind Polizisten, da sind Menschen aus der Unterschicht und so weiter - und jeder von denen muss sich entscheiden, ob er mit den Nazis zusammenarbeitet oder ob er in den Widerstand geht. Und wir sehen quasi diese Entscheidungsprozesse aus dreißig, vierzig, fünfzig Perspektiven. Ich habe noch nie so etwas Facettenreiches, so etwas Lebendiges gesehen in der doch immer wieder auftauchenden Frage: Wie konnte es zu dazu kommen? Wie konnte die Gesellschaft in den Nationalsozialismus übergehen? Und das finde ich bei diesem Romanprojekt unglaublich interessant.

Wie ist denn Ihre persönliche Sicht auf dieses Berlin von 1929? Damals wie vielleicht auch heute: Gibt es für Sie Strukturen, Orte oder Traditionsmuster, die Ihrer Meinung nach fortdauern, die Sie erkennen und die für Sie immer präsent sind?

Ausgelassene Tanzen in einem großen Saal - Szene der Koproduktion von ARD und Sky "Babylon Berlin". © Frédéric Batier/X Filme
Eine Szene aus der Fernsehserie: Im Tanzsaal des legendären "Moka Efti" am Berliner Tiergarten wird ausgelassen getanzt.

Böhm: Unbedingt! Berlin ist damals wie auch heute ein Experimentierraum, ein Raum der Liberalität, der auch manchmal Formen des Exzesses annehmen kann. Und weil sie Muster von damals wie heute angesprochen haben: Nicht umsonst werden ja immer wieder auch Vergleiche gezogen. Also dieser Ort Moka Efti, wo im Film diese ekstatischen Tänze stattfinden, wird immer wieder mit dem Berghain heutzutage verglichen. Es ist damals wie heute eine Metropole, die Menschen aus allen Weltteilen anzieht, die Emotionen und Passionen offen zutage treten lassen. Das macht die Stadt zu einem wunderbar herausfordernden Ort.

Was viele Menschen auch gar nicht wissen: Heute lebt Berlin natürlich von seiner Internationalität und davon, dass so viele Menschen da sind, die auch das Stadtleben dahingehend prägen. Man hält das heutzutage für eine ganz neue Erscheinung, wie viele internationale Restaurants es hier gibt. Aber wenn man sich Fotos aus dem Stadtbild anschaut, dann gab es damals schon - wahrscheinlich nur in Berlin - mexikanische, ägyptische und chinesische Restaurants bis hin zu einem vegetarischen Restaurant am Potsdamer Platz. Das hält man kaum für möglich, aber es gibt so ein Foto vom Potsdamer Platz, da ist ein riesengroßes Schild zu sehen: "Vegetarisches Restaurant". Und all das, diese Mischung, diese Exzessivität, diese Liberalität und diese Internationalität machen Berlin damals wie heute natürlich zu einem wunderbaren Platz, um hier zu leben, und zu einem großartigen Schauplatz für Kunst.

Das Interview führte Claudia Christophersen

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 22.10.2018 | 19:00 Uhr

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