Die Europa-Fahne, die deutsche Flagge und eine Regenbogenflagge sind vor dem Reichstag in Berlin gehisst. © picture alliance/photothek Foto: Leon Kuegeler

75 Jahre Bundesrepublik: "Die Bildsprache hat sich verändert"

Stand: 23.05.2024 06:00 Uhr

Die Verkündung des Grundgesetzes vor 75 Jahren markierte die Geburtsstunde der Bundesrepublik. Seitdem hat sich das Bild und das Selbstverständnis des Landes gewandelt - vom nüchternen Schwarzweiß zu grellem Bunt.

Ein älterer Herr mit weißem Vollbart lacht in die Kamera. © Gerhard Paul
Beitrag anhören 26 Min

Der emeritierte Geschichtsprofessor der Universität Flensburg, Gerhard Paul, beschäftgt sich seit vielen Jahren mit der Geschichte unseres Landes und der Macht der Bilder. Letztere dienen ihm als Quelle für die Analysen historischer Eriegnisse. Im Gespräch mit NDR Kultur erklärt er die Bildsprache der Bonner Republik, der Berliner Republik und der aktuellen "Ampelrepublik". Einen Auszug davon lesen Sie hier, das ganze Gespräch können Sie hören.

Herr Paul, In den frühen Jahren der Bundesrepublik herrschte, wie es der damalige Bundespräsident Theodor Heuss ausdrückte, ein "Pathos der Nüchternheit". Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler spricht von einem "symbolarmen Staat". Am Anfang der Bundesrepublik hält man sich mit starke Bildsprache sehr zurück. Warum? 

Gerhard Paul: Das ist die Erfahrung des "Dritten Reiches" gewesen, wo in riesigen visuellen Szenarien, beispielsweise der Reichsparteitage, damit Politik gemacht wurde. Die Menschen sind ja nicht über Texte, über Erklärungen politisiert worden, sondern über Feindbild-Plakate. Sie sind über riesige Veranstaltungen, die minutiös geplant worden sind, angesprochen worden. Das hat sicherlich seine Wirkung gehabt. Und da hat man nach 1945 gesagt, so wollen wir nicht sein, wir wollen diese Republik auf eine rationale Grundlage stellen. Sie soll transparent sein, sie soll funktional sein, sie soll sachlich sein.  

Weitere Informationen
Für ihren Film "Triumph des Willens" (1934) erhält Leni Riefenstahl im Rahmen eines Festakts der Reichskulturkammer in der Berliner Staatsoper den Nationalen Filmpreis 1934/35 (Fotografie 1935). © picture-alliance / IMAGNO/Schostal Archiv
15 Min

Leni Riefenstahl: Eine Verführerin mit Bildern

Am 8. September 2003 starb die Schauspielerin und Regisseurin Leni Riefenstahl. Ihre Kunst wurde zur perfekten ästhetischen Inszenierung für die Nationalsozialisten. 15 Min

In den 50er und 60er Jahren wurde es dann bunt: Das Wirtschaftswunder feierte sich grell. Sie schreiben: "Nie wurde so viel, so unterschiedlich und so frei fotografiert wie in den 50er/60er Jahren: Fotografie stieg quasi zum Medium der Demokratie auf." Die Fotografie als "Medium der Demokratie"? 

Paul: Medium der Demokratie deshalb, weil es kein exklusives Medium mehr ist. Das ist es durchaus zu Beginn des "Dritten Reiches" und in der Weimarer Republik noch gewesen. Fotoapparate, Filmapparate sind teuer gewesen. Nach dem Krieg ist es zum ersten Mal möglich, dass die Bevölkerung, die Gesellschaft, sich auf den Fotografien selbst anschaut, sich selbst ins Gesicht schaut. Das meine ich mit Demokratisierung.   

Weitere Informationen
Konrad Adenauer unterzeichnet das Grundgesetz am 23. Mai 1949 © dpa/picture-alliance

Das Grundgesetz: Wie Deutschland 1949 seine Verfassung bekam

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik verkündet. Weltweit orientierten sich Staaten an der deutschen Verfassung. mehr

Mit der Wende 1989/90 wurde dann aus der alten Bundesrepublik eine neue. Welches Bild gab die Berliner Republik im Gegensatz zur Bonner Republik da ab? 

Paul: Diese Wendebilder sind, glaube ich, diejenigen, die sich am nachhaltigsten in das Bildgedächtnis der Bürger dieser Republik eingebrannt haben. Und diese Wendebilder haben auch ein besonderes Charakteristikum: Es sind alles Bilder, die aus westlicher Perspektive gemacht worden sind. Es gibt kaum Bilder, die die Gegenperspektive zeigen, kaum Bilder von ostdeutscher Seite. Barbara Klemm, die tolle Frankfurter Fotografin, hat einige tolle Bilder gemacht von der Mauerkrone auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor. Und da sieht man diese völlig verunsicherten Volkspolizisten und NVA-Soldaten. Einige lachen, andere winken, einige wenden sich ab. Das ist die andere Perspektive. Und die andere Perspektive muss man, wenn man über Bilder spricht, immer mitdenken.  

Sie thematisieren in Ihrem Buch die "Bonner Republik" und 1990 die Wende zur "Berliner Republik". Bei Ihnen folgt seit 2021 nun die "Ampelrepublik". Aber ist 2021 tatsächlich eine neue Epoche angebrochen?  

Paul: Von Epoche würde ich nicht sprechen. Es hat sich etwas Neues ergeben. Für mich ist diese "Ampelrepublik" Ausdruck eines Kulturkampfes auch um das Selbstverständnis der Republik. Das Entscheidende, weshalb ich von einer anderen Republik spreche, ist, dass ein Grundkonsens sich aufzukündigen droht. Wir haben lange Zeit eine große Identifikation von allen Parteien - und zwar von rechts bis links - ganz im Unterschied zur Weimarer Republik mit den Institutionen des Staates, aber auch mit den Symbolen des Staates, beispielsweise mit der Fahne. Und jetzt plötzlich, und das ist für mich ein Einschnitt gewesen, die Regenbogenfahne vom Reichstag. Die Regenbogenfahne ist nicht die Fahne der Republik. Das ist nach dem Grundgesetz, und da sind wir wieder bei 1949, Schwarz-Rot-Gold. Das heißt, es gibt eine neue Diskussion - mehr oder weniger ausgefochten - um das Selbstverständnis dieser Republik.

Weitere Informationen
Eine Ausgabe des Grundgesetzes der Bundesrepublik Deutschland liegt neben Schreibutensilien. © ZB/dpa Foto: Monika Skolimowska

"Die Meinungsfreiheit des anderen muss man aushalten"

Artikel 5 im Grundgesetz ermöglicht freie Rede. Manche sehen sie eingeschränkt - Juristen widersprechen. mehr

Wie sieht Ihrer Meinung nach dieses Selbstverständnis aus?

Diese Republik will bunter sein, will diverser sein. Das drückt sich in dieser Regenbogenfahne aus, die zum ersten Mal von dieser neuen Regierung 2021 auf dem Reichstag gehisst wurde. Das ist für mich etwas Neues. Es ist etwas Neues, wie diese neue Republik mit "unbotsamen Bildern" umgeht. Ich finde es nicht richtig, dass Bilder abgehängt werden, dass Ausstellungen abgesagt werden. Das passiert immer öfter. Furchtbare Beispiele, die es dafür gibt. Bilder werden inkriminiert. Das ist für mich eine neue Qualität. Das hat es in dieser Weise in der "Bonner" und in der "Berliner Republik" nicht gegeben. Heute wird bereits vor den Diskussionen verhüllt, wird abgehängt.

Welcher ist Ihr Ansatz?

Ich bin Anhänger dessen, dass man sich mit allem, was einem nicht gefällt, auseinandersetzt. Auseinandersetzung ist das Gebot der Stunde - nicht abhängen oder verpixeln. Wer entscheidet denn darüber, was abgehängt und was verpixelt wird? In einer freien Gesellschaft finde ich das nicht sinnvoll.  

Das Gespräch führte Jürgen Deppe.

Weitere Informationen
Auf einer Säule steht das Wort "Jude" © Screenshot NDR

Notwendiges Bekenntnis oder Ende der Kunstfreiheit? Die "Antisemitismusklausel"

In Schleswig-Holstein ist die Kulturförderung an ein Bekenntnis gegen den Antisemitismus gebunden. Karin Prien und Carsten Brosda sprechen über die Klausel. mehr

Konrad Adenauer unterzeichnet das Grundgesetz am 23. Mai 1949 © dpa/picture-alliance

Das Grundgesetz: Wie Deutschland 1949 seine Verfassung bekam

Am 23. Mai 1949 wurde das Grundgesetz der Bundesrepublik verkündet. Weltweit orientierten sich Staaten an der deutschen Verfassung. mehr

Eine Familie kehrt 1955 zu Fuß von einem Einkauf zurück. © picture alliance / Oscar Poss Foto: Oscar Poss

Vater, Mutter, Kind: Moral und Frauenbild in den 50er-Jahren

Im Grundgesetz ist die Gleichberechtigung von Frau und Mann seit 1949 verankert. Doch der Weg dorthin ist in den 50ern noch weit. mehr

Gesetzestext aus deutscher Gesetzessammlung oeffentlichen Rechts - Deutsche Verfassung: Die Grundrechte, Artikel 5: Recht der freien Meinungsaeusserung, Meinungsfreiheit, Pressefreiheit, Informationsfreiheit, Kunstfreiheit. © picture alliance / blickwinkel/G. Vockel | G. Vockel
7 Min

75 Jahre Grundgesetz: Die Grenze zwischen Meinungsfreiheit und Hetze

Im Artikel 5 des Grundgesetzes ist die Meinungsfreiheit festgeschrieben: Darf man in Deutschland sagen, was man will? Stimmen von Bürgern und Experten. 7 Min

Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Das Gespräch | 19.05.2024 | 06:10 Uhr

Hände halten ein Smartphone auf dem der News-Channel von NDR Kultur zusehen ist © NDR.de

WhatsApp-Channel von NDR Kultur: So funktioniert's

Die Kultur Top-News aus Norddeutschland direkt aufs Smartphone: NDR Kultur ist bei WhatsApp mit einem eigenen Kanal aktiv. mehr

Eine Grafik zeigt einen Lorbeerkranz auf einem Podest vor einem roten Hintergrund. © NDR

Legenden von nebenan: Wer hat Ihren Ort geprägt?

NDR Kultur sucht Menschen, die in ihrer Umgebung bleibende Spuren hinterlassen haben - und setzt ihnen ein virtuelles Denkmal. mehr

Der Arm einer Frau bedient einen Laptop, der auf einem Tisch in einem Garten steht, während die andere Hand einen Becher hält. © picture alliance / Westend61 | Svetlana Karner

Abonnieren Sie den NDR Kultur Newsletter

NDR Kultur informiert alle Kulturinteressierten mit einem E-Mail-Newsletter über herausragende Sendungen, Veranstaltungen und die Angebote der Kulturpartner. Melden Sie sich hier an! mehr

NDR Kultur App Bewerbung © NDR Kultur

Die NDR Kultur App - kostenlos im Store!

NDR Kultur können Sie jetzt immer bei sich haben - Livestream, exklusive Gewinnspiele und der direkte Draht ins Studio mit dem Messenger. mehr

Mann und Frau sitzen am Tisch und trinken Tee. © NDR Foto: Christian Spielmann

Tee mit Warum - Die Philosophie und wir

Bei einem Becher Tee philosophieren unsere Hosts über die großen Fragen. Denise M‘ Baye und Sebastian Friedrich diskutieren mit Philosophen und Menschen aus dem Alltag. mehr

Mehr Kultur

Der NDR Sachbuchpreis © NDR.de Foto: Axel Herzig

NDR Sachbuchpreis 2024: Die Verleihung jetzt im Livestream

Der Gala-Abend in Göttingen wird live von NDR Kultur im Radio und online als Video-Livestream übertragen. Video-Livestream