75 Jahre Bundesrepublik: "Die Bildsprache hat sich verändert"
Die Verkündung des Grundgesetzes vor 75 Jahren markierte die Geburtsstunde der Bundesrepublik. Seitdem hat sich das Bild und das Selbstverständnis des Landes gewandelt - vom nüchternen Schwarzweiß zu grellem Bunt.
Der emeritierte Geschichtsprofessor der Universität Flensburg, Gerhard Paul, beschäftgt sich seit vielen Jahren mit der Geschichte unseres Landes und der Macht der Bilder. Letztere dienen ihm als Quelle für die Analysen historischer Eriegnisse. Im Gespräch mit NDR Kultur erklärt er die Bildsprache der Bonner Republik, der Berliner Republik und der aktuellen "Ampelrepublik". Einen Auszug davon lesen Sie hier, das ganze Gespräch können Sie hören.
Herr Paul, In den frühen Jahren der Bundesrepublik herrschte, wie es der damalige Bundespräsident Theodor Heuss ausdrückte, ein "Pathos der Nüchternheit". Der Politikwissenschaftler Herfried Münkler spricht von einem "symbolarmen Staat". Am Anfang der Bundesrepublik hält man sich mit starke Bildsprache sehr zurück. Warum?
Gerhard Paul: Das ist die Erfahrung des "Dritten Reiches" gewesen, wo in riesigen visuellen Szenarien, beispielsweise der Reichsparteitage, damit Politik gemacht wurde. Die Menschen sind ja nicht über Texte, über Erklärungen politisiert worden, sondern über Feindbild-Plakate. Sie sind über riesige Veranstaltungen, die minutiös geplant worden sind, angesprochen worden. Das hat sicherlich seine Wirkung gehabt. Und da hat man nach 1945 gesagt, so wollen wir nicht sein, wir wollen diese Republik auf eine rationale Grundlage stellen. Sie soll transparent sein, sie soll funktional sein, sie soll sachlich sein.
In den 50er und 60er Jahren wurde es dann bunt: Das Wirtschaftswunder feierte sich grell. Sie schreiben: "Nie wurde so viel, so unterschiedlich und so frei fotografiert wie in den 50er/60er Jahren: Fotografie stieg quasi zum Medium der Demokratie auf." Die Fotografie als "Medium der Demokratie"?
Paul: Medium der Demokratie deshalb, weil es kein exklusives Medium mehr ist. Das ist es durchaus zu Beginn des "Dritten Reiches" und in der Weimarer Republik noch gewesen. Fotoapparate, Filmapparate sind teuer gewesen. Nach dem Krieg ist es zum ersten Mal möglich, dass die Bevölkerung, die Gesellschaft, sich auf den Fotografien selbst anschaut, sich selbst ins Gesicht schaut. Das meine ich mit Demokratisierung.
Mit der Wende 1989/90 wurde dann aus der alten Bundesrepublik eine neue. Welches Bild gab die Berliner Republik im Gegensatz zur Bonner Republik da ab?
Paul: Diese Wendebilder sind, glaube ich, diejenigen, die sich am nachhaltigsten in das Bildgedächtnis der Bürger dieser Republik eingebrannt haben. Und diese Wendebilder haben auch ein besonderes Charakteristikum: Es sind alles Bilder, die aus westlicher Perspektive gemacht worden sind. Es gibt kaum Bilder, die die Gegenperspektive zeigen, kaum Bilder von ostdeutscher Seite. Barbara Klemm, die tolle Frankfurter Fotografin, hat einige tolle Bilder gemacht von der Mauerkrone auf dem Platz vor dem Brandenburger Tor. Und da sieht man diese völlig verunsicherten Volkspolizisten und NVA-Soldaten. Einige lachen, andere winken, einige wenden sich ab. Das ist die andere Perspektive. Und die andere Perspektive muss man, wenn man über Bilder spricht, immer mitdenken.
Sie thematisieren in Ihrem Buch die "Bonner Republik" und 1990 die Wende zur "Berliner Republik". Bei Ihnen folgt seit 2021 nun die "Ampelrepublik". Aber ist 2021 tatsächlich eine neue Epoche angebrochen?
Paul: Von Epoche würde ich nicht sprechen. Es hat sich etwas Neues ergeben. Für mich ist diese "Ampelrepublik" Ausdruck eines Kulturkampfes auch um das Selbstverständnis der Republik. Das Entscheidende, weshalb ich von einer anderen Republik spreche, ist, dass ein Grundkonsens sich aufzukündigen droht. Wir haben lange Zeit eine große Identifikation von allen Parteien - und zwar von rechts bis links - ganz im Unterschied zur Weimarer Republik mit den Institutionen des Staates, aber auch mit den Symbolen des Staates, beispielsweise mit der Fahne. Und jetzt plötzlich, und das ist für mich ein Einschnitt gewesen, die Regenbogenfahne vom Reichstag. Die Regenbogenfahne ist nicht die Fahne der Republik. Das ist nach dem Grundgesetz, und da sind wir wieder bei 1949, Schwarz-Rot-Gold. Das heißt, es gibt eine neue Diskussion - mehr oder weniger ausgefochten - um das Selbstverständnis dieser Republik.
Wie sieht Ihrer Meinung nach dieses Selbstverständnis aus?
Diese Republik will bunter sein, will diverser sein. Das drückt sich in dieser Regenbogenfahne aus, die zum ersten Mal von dieser neuen Regierung 2021 auf dem Reichstag gehisst wurde. Das ist für mich etwas Neues. Es ist etwas Neues, wie diese neue Republik mit "unbotsamen Bildern" umgeht. Ich finde es nicht richtig, dass Bilder abgehängt werden, dass Ausstellungen abgesagt werden. Das passiert immer öfter. Furchtbare Beispiele, die es dafür gibt. Bilder werden inkriminiert. Das ist für mich eine neue Qualität. Das hat es in dieser Weise in der "Bonner" und in der "Berliner Republik" nicht gegeben. Heute wird bereits vor den Diskussionen verhüllt, wird abgehängt.
Welcher ist Ihr Ansatz?
Ich bin Anhänger dessen, dass man sich mit allem, was einem nicht gefällt, auseinandersetzt. Auseinandersetzung ist das Gebot der Stunde - nicht abhängen oder verpixeln. Wer entscheidet denn darüber, was abgehängt und was verpixelt wird? In einer freien Gesellschaft finde ich das nicht sinnvoll.
Das Gespräch führte Jürgen Deppe.