Christian Wulff: "Keine Kita ohne Musik, keine Schule ohne Schulchor!"
Am Donnerstag startet die chor.com in Hannover, ein großes Fachtreffen der Vokalmusik mit über 1.300 Gästen aus aller Welt. Christian Wulff, Präsident des Deutschen Chorverbands, spricht im Interview bei NDR Kultur über die Kraft des Singens.
Herr Wulff, was ist Ihre persönliche Verbindung zum Chor? Sie haben ja kürzlich in einem Interview mit der "Neuen Osnabrücker Zeitung" mal eingeräumt, dass Sie selbst kein so guter Sänger sind.
Christian Wulff: Ich bin zu einer Zeit in den Kindergarten gegangen, als Singen nicht mehr üblich war. Durch die Debatten der 60er, wo Adorno und andere gesagt haben, dass aufgrund der deutschen Geschichte Volkslieder nicht mehr unbeschwert gesungen werden dürften. Darunter leide ich bis heute, weil ich nicht zum Chorsingen geführt wurde. Dann hatte ich wenig Zeit, regelmäßig zu Proben zu gehen, und singe erst jetzt wieder als Präsident des Chorverbandes. Besonders gerne singe ich beim Rudelsingen, Adventssingen, im Stadion beim VfL Osnabrück oder bei Borussia Dortmund und letztlich bei Veranstaltungen, bei denen das Mitsingen ermöglicht ist. Und das gibt es immer häufiger.
Die Corona-Pandemie war eine schwierige Zeit. Wie hat sich die Chorszene davon erholt?
Wulff: Corona war ein schwerer Einschnitt wegen der ganzen Beschränkungen, wo das Singen untersagt war. Da sind auch zwei Jahrgänge in den Schulen verloren gegangen, die im Schulchor hätten anfangen können zu singen. Da holen wir jetzt aber auf. Nach den Rückgängen, die man schwer berechnen kann, haben wir wieder leicht steigende Zahlen, weil das Singen einfach populär ist. Mir hat sich die Kugelstoß-Goldmedaillengewinnerin von Paris quasi ins Herz gestoßen, als sie vorher noch einen Gospel gesungen hat und auch in der Pressekonferenz gesungen hat.
Ich glaube, es wird immer mehr Menschen deutlich, das Singen inklusiv ist: Jeder kann mitmachen, jeder bringt seine Stimme mit, es ist barrierefrei, es ist Ausdruck der Seele, man macht etwas gemeinsam, man kann leichter Sprachen erlernen, es ist kreativ. Und, was für unsere Gesellschaft immer wichtiger ist: Chöre sind überall vor Ort, wenn manches schließt und wegzieht. Das ist ein Instrument gegen Einsamkeit und für Zusammenhalt. Auf diese Dinge wird man zunehmend aufmerksam. Auch in der der Musiktherapie, in der Gesundheitspolitik spürt man, was Singen bedeutet. Ich habe neulich ein Mädchen getroffen, das sagte, es gehe bei ihm zuhause drunter und drüber - aber wenn es zur Probe gehe, dann sei alles wieder gut. Wenn Sie Kinder in dieser Weise hören, dann ist unsere Forderung berechtigt zu sagen: keine Kita ohne Musik, keine Schule ohne Schulchor! Das muss einfach ernster genommen werden, weil es wichtig ist für den Ausgleich.
Ist das auch das Geheimnis, dass Musik, die so direkt ins Herz geht als universelle Sprache, dass das vielen in Erinnerung bleibt, man sich auch nach vielen Jahren noch an Chorstücke und damit auch an Chormitglieder, an die Gemeinschaft erinnert?
Wulff: Menschen gehen anders von der Chorprobe, als sie hingegangen sind; sie gehen beseelt und beeindruckt aus den Veranstaltungen. Wir werden das die nächsten Tage in Hannover erleben, wo wir auch wunderbare Aufführungsstätten haben: Kirchen, Galerie Herrenhausen, Kulturzentrum Pavillon, wo junge Leute erreicht werden und sich alle gemeinsam auf ein besonderes Erlebnis einlassen und auch mal ins Träumen geraten. Ich finde nach meinen Jahren als Präsident des Chorverbandes, dass die, die singen, andere Lieder, andere Sprachen als ganz große Bereicherung erleben. Die sind mutiger, weniger ängstlich, weniger furchtsam. Wir in der Chorszene sehen uns als Teil der Demokratiebewegung, und ein Chor ist zutiefst demokratisch: Da wird gemeinsam besprochen und geplant. Das hat eine gesellschaftspolitische Dimension und eine persönliche, für die Persönlichkeitsbildung jedes Einzelnen.
Wie ist Ihre Beobachtung, wie divers sind die Chöre?
Wulff: Natürlich haben wir im ländlichen Raum eher Männerchöre, und natürlich sind die unterschiedlich in der Integration von Neubürgern, von Diversität. Aber das wird das große Thema im nächsten Mai in Nürnberg beim Deutschen Chorfest sein - das steht nämlich unter nach dem Motto: Stimmen der Vielfalt. Dort werden wir national und international viele gemeinsame Projekte haben, mit Integrationschören, Flüchtlingschören, Chören aus der Queer-Szene - auch das verbindet Menschen unterschiedlicher Herkunft und Sprache. Die Musik kennt eben nur eine Sprache, da können alle mitmachen. Und wenn man mal ein Lied in einer fremden Sprache singt, dann ist es auch eine Form von Bereicherung. Diversität ist ein Thema für die Chorszene, und wir sehen darin vor allem große Chancen für Nachwuchsgewinnung.
Gibt es bei der chor.com eine Veranstaltung, auf diese Sie sich ganz besonders freuen?
Wulff: Da muss man als Präsident ein bisschen vorsichtig sein. Aber ich werde mir auf jeden Fall den Bundesjugendchor anhören; der ist grandios. Ich werde mir aber auch einen Jazz-Pop-Chor im Kulturzentrum Pavillon anhören. Die Bandbreite habe ich im Blick, und ich hoffe, dass viele Konzerte ausverkauft sind. Aber noch gibt es Karten, und man kann auch spontan hingehen und sich von Chormusik ganz neu erobern lassen.
Das Gespräch führte Philipp Schmid.