Angemessen erinnern: Claudia Roths neues Gedenkstättenkonzept
Zu Beginn ihrer Amtszeit hat Kulturstaatsministerin Claudia Roth betont, wie wichtig ihr die deutsche Erinnerungskultur ist. Jetzt legt sie ein neues Gedenkstättenkonzept vor, doch kaum war der Entwurf veröffentlicht, hagelte es Kritik.
"Wir wollen die Geschichte nahbar machen und dafür müssen wir in die Lebensrealitäten der Menschen - egal welchen Alters, egal welcher Hautfarbe", sagt Tiktok-Creatorin Marie Zachger. In der Generation der unter 20-Jährigen haben oft nicht einmal mehr die Großeltern die Nazi-Zeit erlebt. Wie hält man die Erinnerung an die Verbrechen der Vergangenheit lebendig?
"Der entscheidende Punkt ist, dass man tatsächlich von historischen Orten ausgeht", erklärt Oliver von Wrochem, Leiter der KZ-Gedenkstätte Neuengamme. "Wir sind in Neuengamme, einem historischen Ort mit historischer Relevanz. An diesem Ort kann man Geschichte erfahren. Das ist ein Unterschied zu Orten, die diese Potenz nicht haben."
An die Demokratie-Geschichte Deutschlands erinnern
Gedenkorte sind das eine - doch an was muss eigentlich gedacht werden? Für Kulturstaatsministerin Claudia Roth ein wichtiges Anliegen: "Ich komm aus Augsburg. Hier haben 50 Prozent Migrationsgeschichte. In der Nähe von Augsburg ist Dachau - wie vermittle ich den Terror, das Verbrechen des Nationalsozialismus in diese Einwanderungsgesellschaft hinein, dass sie auch zu ihrer Geschichte wird?"
Bisher konzentrierte sich unser staatliches Gedenken auf die doppelte Diktatur-Vergangenheit: die nationalsozialistischen Verbrechen, aber auch das SED-Unrecht. Claudia Roths Ansatz: Nun soll auch an die wechselvolle Demokratie-Geschichte Deutschlands erinnert werden. Sie will den Erzählungen der Einwanderungsgesellschaft Raum geben und Opfer rechten Terrors würdigen.
Auch Deutschlands koloniale Vergangenheit war lange ein blinder Fleck, wie beispielsweise die Aufarbeitung des Völkermords an den Herero und Nama im heutigen Namibia zeigt. "Ich bin der Meinung, dass man auch andere Bereiche der Erinnerungskultur in den Blick nehmen muss, beispielsweise das koloniale Erbe, Orte der Demokratie, Orte der Migrationsgeschichte", sagt Oliver von Wrochem. "Und dass jeder Bereich sein eigenes Augenmerk braucht. Es braucht kein gesamtstaatliches Konzept."
Kritik an Claudia Roths Gedenkstättenkonzept
Jeder Bereich der deutschen Geschichte ist einzigartig. Aber ist es wirklich klug, sie in einem gemeinsamen Erinnerungskonzept zu verbinden? Die Dachverbände deutscher Gedenkstätten befürchten ein Vermischen und Vermengen und sehen die Einzigartigkeit des Holocausts in Gefahr. Kaum hatte Roth ihre Pläne konkretisiert, hagelte es Kritik: "Amtsversagen". Befürchtet wird eine "Schule des Verlernens". Roth wird "Ideologie und deutscher Selbsthass" vorgeworfen. In einem Protestbrief wird Roths Papier gar "geschichts-revisionistisch" genannt.
"Wenn man sagt, wir vergleichen, dann ist das keine Gleichsetzung", sagt Roth. "Mir als Person zu unterstellen, ich wolle nationalsozialistisches Unrecht relativieren oder ich wolle SED-Unrecht bagatellisieren - Entschuldigung, das ist wirklich unhaltbar! Das ist wirklich absurd. Man muss nicht immer mit dem Hammer sofort draufhauen."
Dennoch muss man fragen: Ist ein gemeinsames Erinnerungskonzept überhaupt möglich, ohne die Singularität der Shoa zu gefährden? "Wir reden auch von 'Zivilisationsbruch', bezogen auf die NS-Verbrechen. Wenn man ein Konzept aus dieser Perspektive denkt, muss man sich immer sofort überlegen: Wie stehen diese Dinge in Relation zueinander? Dann wird man dazu kommen, dass man Prioritäten setzt und eine relationale Verbindung zwischen den verschiedenen Verbrechensarten herstellt", meint Oliver von Wrochem.
Einwanderungsgesellschaft mit einbeziehen
Die Gedenkstätten bestehen auf ihrer herausgehobenen Stellung. Die Zeit des Nationalsozialismus und der DDR müsse Grundlage bleiben. Sie befürchten, dass die Verbrechen einzelner Täter auf eine Stufe mit staatlichem Unrecht gestellt werden. Doch wenn sich Gesellschaft verändert, braucht es neue Vermittlungswege, findet Claudia Roth: "Erinnerung ist ja nicht etwas, was sich in der Vergangenheit einmauert. Es ist nicht etwas, was statisch ist, sondern eröffnet, um die Realität einer diversen, bunten Einwanderungsgesellschaft mit einzubeziehen."
Am 6. Juni trifft man sich am Runden Tisch. Höchste Zeit, dass miteinander über zeitgemäßes Gedenken gesprochen wird. Das sind wir den Zeitzeugen und Opfern schuldig.