Feiernde Menschen trinken Alkohol © imago
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AUDIO: Alkoholsucht: Sind Kulturschaffende besonders gefährdet? (10 Min)

Alkoholismus: Sind Kreative besonders gefährdet?

Stand: 12.04.2023 17:36 Uhr

Gerade in kreativen Berufen, in der Musik, der Kunst oder am Theater, hält sich wacker das Gerücht, Alkoholkonsum mache besonders kreativ, vielleicht besonders frei. Stimmt das? Ein Gespräch mit dem Suchtforscher Falk Kiefer.

Herr Kiefer, was genau macht Alkohol mit unserem Gehirn und mit unserem Körper?

Falk Kiefer: Alkohol hat eine enthemmende Funktion. Die Sorgen werden weniger, vielleicht auch die Sorgen, sich peinlich zu benehmen - was man Menschen ansieht, die viel konsumiert haben und auf dem Tisch tanzen. Aber diese Funktion hat Alkohol nicht exklusiv. Auch in alkoholfreien Gesellschaften können Menschen genauso kreativ und entspannt sein, haben das aber auf andere Weise gelernt. Unsere Gesellschaft bringt unseren Kindern und Heranwachsenden bei, dass Alkohol gut ist, um lustig und enthemmt zu sein - das müsste aber nicht so sein.

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Im vergangenen Jahr gab es eine Befragung der Bundeszentrale für gesundheitliche Aufklärung unter Jugendlichen im Alter zwischen zwölf und 25 Jahren. Die Ergebnisse aus dieser Studie legen nahe, dass diese junge Generation weitaus häufiger komplett auf Alkohol verzichtet als junge Menschen in der Vergangenheit. Sehen Sie da aktuell so eine Art Trendwende?

Kiefer: Tatsächlich ist das ein Trend, dass in der Generation gesundheitliche Aspekte eine größere Rolle spielen: der Besuch im Fitnesscenter, die negativen Konsequenzen mit anorektischen Dingen, die positiven Trends in Richtung vegetarischer und veganer Ernährung. Das geht Hand in Hand damit, dass viele junge Menschen wenig oder gar keinen Alkohol trinken.

Leider sehen wir auch den anderen Teil der Bevölkerung, der nicht so kontrolliert ist. Den Trend, dass mehr Alkohol konsumiert wird, das sogenannte Komasaufen. Wir sehen also eher eine Veränderung, dass nicht mehr alle Jugendlichen einen gewissen gesellschaftlichen Konsum betreiben, sondern ein Teil der Gesellschaft sich davon abkoppelt und freimacht vom Alkoholkonsum, aber leider auch ein anderer Teil der Gesellschaft den Alkoholkonsum in den Exzess treibt.

In diesem Jahr ist es 70 Jahre her, dass sich die Anonymen Alkoholiker in Deutschland gegründet haben. 2020 hat eine Metastudie gezeigt, dass die Anonymen Alkoholiker noch immer das effektivste Konzept zur Bekämpfung der Alkoholsucht sind. Sehen Sie das auch so?

Kiefer: Die Anonymen Alkoholiker sind eine extrem wichtige Selbsthilfevereinigung mit zwei wichtigen Grundansatzpunkten. Zum eine die niedrige Hürde zur Beratung, zum Andocken, wenn man glaubt, Alkoholprobleme zu haben, aber noch nicht bereit ist, zum Arzt oder ins Krankenhaus zu gehen. Dann kann man sich da von Betroffenen Beratung holen. Und zum anderen in der langfristigen Nachsorge: Das ist wichtig, wenn man zum Beispiel einen Alkoholentzug gemacht hat und diese Abstinenz langfristig sicherstellen will. Dazu ist es extrem hilfreich, dass es weltweit Tausende von Gruppen gibt, an die man ganz einfach andocken kann und nicht von oben herab erklärt bekommt, wie man mit Alkohol umgehen soll, sondern von Betroffenen die eigenen Erfahrung zurückgemeldet, bekommt. Denn das Wichtigste ist, überhaupt erst mal eine Veränderungsbereitschaft zu erreichen. Das ist eine eigene Entscheidung, die man nicht verordnet bekommen kann. Und das Zweite ist, diese Entscheidung aufrechtzuerhalten, weil diese Entscheidung nach einem Monat, einem Jahr oder auch nach fünf Jahren Abstinenz relativ leicht verloren geht, weil man die Achtsamkeit für das Problem verliert. Dafür ist es unglaublich hilfreich, so ein Gruppenkonzept zu haben, an das man andocken kann, das niedrigschwellig ist und das langfristig bereitsteht.

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In Deutschland ist Alkoholismus seit 1968 offiziell als Krankheit anerkannt. Vor elf Jahren hat ein US-amerikanischer Psychologe von der Harvard Medical School mit der These für Aufsehen gesorgt, dass eine Sucht eher die Störung einer Willensentscheidung sei denn eine Krankheit, und deshalb sei es falsch, Alkoholismus als Krankheit zu bezeichnen. Wie sehen Sie das?

Kiefer: Dann ist auch die Adipositas keine Krankheit, also das starke Übergewicht, und auch Typ-2-Diabetes, weil man ja abnehmen, Sport machen und sich gesund ernähren könnte. Natürlich ist das eine Erkrankung. Der amerikanische Kollege hat damit für gewisse Presse gesorgt. Aber Menschen, die davon betroffen sind, versuchen über Monate, Jahre, Jahrzehnte von dem Alkohol loszukommen, abstinent zu bleiben - aber sie schaffen es nicht, weil der Druck, der durch diese Suchterkrankung erzeugt wird, so groß ist, dass sie es nicht schaffen. Deswegen wissen wir, dass es bestimmte Suchtstoffe gibt, die unser Gehirn so manipulieren, dass es unglaublich schwierig wird, davon loszukommen. Sie können diese fatalen gesundheitsschädlichen Verhaltensweisen auch in Tiermodellen bei Mäusen, Ratten, Affen oder Kaninchen erzeugen, die ihr ganzes Sozialverhalten verändern, die ihre ganze Gesundheit und ihre notwendigsten Bedürfnisse vernachlässigen, nur um weiter an ihre Suchtmittel zu kommen. Das ist also keine philosophisch erklärbare Erkrankung, sondern es ist eine ganz fatale Erkrankung, womit Menschen jahrzehntelang kämpfen und nicht davon loskommen.

Im Kulturbereich gibt es viele Beispiele für Suchterkrankungen, teilweise sogar eine Art Trinkkult, zum Beispiel bei Musikerinnen und Musikern. Sehen Sie in diesen kreativen Berufen eine besondere Gefährdung?

Kiefer: Die Gefährdung besteht dann, wenn das in den kreativen Berufen tradiert wird. Wenn man in Communitys groß wird, die konsumieren - egal ob Alkohol, Cannabis oder Kokain -, dann wird man mit höherer Wahrscheinlichkeit mitkonsumieren. Und das erhöht die Wahrscheinlichkeit, selbst abhängig zu werden. Das ist, glaube ich, eher eine kulturelle Tradition, weil es in Ländern oder bei Bevölkerungsgruppen, wo kein Alkohol konsumiert, genauso viel kreative Menschen gibt wie in Ländern, wo konsumiert wird. Außer dass in den konsumierenden Ländern viel mehr Kreative vorzeitig ableben und ihre Kreativität am Ende nicht mehr ausspielen können. Kreativität ist also nicht an Drogenenthemmung gekoppelt - man kann auch kreativ werden, indem man die meditiert oder indem man Sport macht. Es geht ja darum, sich von den Alltagsdingen, die einen ständig beschäftigen, freizumachen. Das kann man natürlich mit Alkohol und Drogen, aber es gibt auch viele andere gesellschaftlich akzeptierte Methoden, sich freizumachen von Alltagsgedanken. Wenn man die lernt und an seine Community oder seine Kinder weitergibt, dann geht Kreativität nicht verloren - davon bin ich überzeugt.

Es gibt auch generationsübergreifend Bewegungen, die zum Nüchternsein aufrufen, etwa die Sober-Curious-Bewegung: Nüchtern und neugierig bleiben, ist deren Credo. Welche Vorteile hat es, nüchtern zu bleiben?

Kiefer: Alkohol ist toxisch, erhöht die Krankheitslast und reduziert die Lebenserwartung. Es gibt keine unbedenklichen Mengen. Geringe Mengen Alkohol sind nicht sonderlich schädlich - das Risiko kann man in Kauf nehmen. Aber es ist immer gesünder, keinen Alkohol zu trinken als Alkohol zu trinken. Dementsprechend hat eine Sober-Bewegung für sich schon einen positiven Effekt, weil man qualitative Lebenszeit verlängert. Nichtsdestotrotz bleibt man auch klar im Kopf in der Zeit, in der man abstinent ist. Und natürlich machen Suchtmittel, auch Alkohol, neben dem Abschalten vom Alltag auch dumpf: Sie reduzieren die Wahrnehmung. Vielleicht auch für die eigenen Probleme und für die Dinge, die man in seinem Leben ändern müsste. Dementsprechend hilft das Nicht-Alkohol-Trinken dabei, seine Probleme ernstzunehmen, anzugehen und seine Lebensverhältnisse so zu gestalten, dass man auch mit klarem Kopf zurechtkommt.

Das Interview führte Anna Novák.

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Dieses Thema im Programm:

NDR Kultur | Journal | 12.04.2023 | 16:30 Uhr

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