Philosoph Gabriel: "Wir müssen nach vorne denken"
Die Corona-Krise verändert uns stärker, als wir es selbst vielleicht wahrhaben wollen, meint Markus Gabriel. Er ist einer der bekanntesten Philosophen der jüngeren Generation, mit Professuren in Bonn und an der Sorbonne in Paris. Über Nacht hat sich unser Menschenbild gewandelt: "Ich beobachte im Moment ein Syndrom, das ich als Hygienismus bezeichne, das muss man so hören wie Rassismus. Wir klassifizieren uns selbst und andere bewusst und unbewusst nur noch als Virenträger. Das Robert Koch-Institut ist die fundamentale Selbstbeobachtungsinstanz der Gesellschaft geworden. Und dies ist eine neue, gefährliche Form der Entfremdung." Gleichzeitig merken wir Gabriel zufolge, wie verwundbar wir sind und dass wir mit dem Unsichtbaren nicht gut leben können.
Das Ende der alten Normalität
Diese Verunsicherung sollte ein deutliches Signal für uns alle sein: Eine Rückkehr zur alten Normalität könne und werde es nicht geben. Und das, sagt Gabriel, ist eigentlich eine gute Nachricht: "Denn die Normalität, die jetzt endgültig zerstört ist, war in einem bestimmten Sinne nicht normal, sondern letal. Wir haben ja systematisch an der Selbstausrottung der Menschheit gearbeitet. Die Ordnung vor Corona war eben überhaupt nichts, nach dem wir uns zurücksehnen sollten, sondern wir müssen nach vorne denken. Wir leben längst in einer ganz neuen Phase der Menschheit."
Die Sehnsucht nach der Welt vor Corona ist natürlich da, aber Gabriel interpretiert sie als eine Sehnsucht, die noch nicht gemerkt hat, dass die Vergangenheit ein Irrtum war, "weil das selbst auferlegte Joch des Burn-out-Kapitalismus uns über Jahrzehnte des sogenannten neoliberalen Denkens aufgenötigt wurde. Ja, wir haben uns sozusagen umprogrammiert und glauben jetzt seit circa 30 Jahren, dass ein in Wirklichkeit schlechtes Leben ein gelungenes Leben ist. Wir haben uns in einem schlechten Leben eingerichtet, und Gewohnheiten legt man nicht so schnell ab, auch wenn sie schlechte waren". Es sei Zeit zu erkennen, "dass ein gutes, gelungenes Leben nicht darin besteht, sinnlose Konsumgüter anzuhäufen, deren Herstellungsbedingungen dazu führen, dass vermutlich unsere Enkel oder spätestens unsere Urenkel ersticken werden, weil wir den Planeten zerstört haben".
Von einem Irrtum zum nächsten?
Gabriel sieht einen große "moralische Errungenschaft" darin, dass unsere Gesellschaft sich rasch damit einverstanden erklärt hat, Mehrheitsrechte zugunsten einer gefährdeten Minderheit einzuschränken. Allerdings zeigten die aktuellen Gegenströmungen, dass wir vielleicht zu schnell umgeschlagen seien vom postmodernen Anything goes zu einer strengen Wissenschaftsgläubigkeit. Das alte Bild vom Menschen als egozentrischem Konsumenten war falsch, das neue vom bloßen Virenträger sei es auch: "So stolpern wir von einem Irrtum in den nächsten".
Stattdessen müssten wir unsere positive Erfahrung der Rücksichtnahme ausweiten: "Die Liste derjenigen, gegenüber denen wir moralische Verpflichtungen haben, ist ja viel länger als die die Risikopatienten, die jetzt in den Listen des Robert Koch-Instituts geführt werden. Ja, ein wirklich großer Sprung für Deutschland wäre es, wenn wir lernen, dass unsere moralischen Pflichten nicht an der Grenze aufhören und sowieso nicht dort, wo Menschen ungefähr aussehen wie wir."
After Corona Club: Gesprächsformat mit Anja Reschke
Markus Gabriel ist zu Gast im After Corona Club, in dem Anja Reschke mit Fachleuten aus Psychologie, Wirtschaft, Soziologie, Politik, Medizin und weiteren Wissenschaften spricht. Der Debattierklub über unsere Zukunft. Diskutieren Sie mit!
Übrigens: Den After Corona Club gibt es auch als Audio-Podcast.