Ist künftig "mehr Zeit" der neue Reichtum?
Weniger Wachstum, weniger Geld, weniger Besitz - unser Wohlstand ist durch die Corona-Krise gefährdet. Hans-Jürgen Burchardt, Professor für Internationale Politik, sieht die Chance zum Umdenken: Ist neben Geld künftig "mehr Zeit" der neue Reichtum? Der Wirtschafts- und Sozialwissenschaftler ist zu Gast bei Anja Reschke im After Corona Club.
Ein gutes Leben - da denken viele an ein gutes Einkommen, Autos, Reisen, Besitz. "Wir glauben, wir brauchen einen ganz bestimmten materiellen Status, um Wohlstand zu empfinden", sagt Hans-Jürgen Burchardt. Doch es gebe seit den 70er-Jahren vielfältige Untersuchungen, die gezeigt hätten, dass bei einem bestimmten ökonomischen Stand, wenn wir unsere Grundbedürfnisse befriedigt haben, uns mehr Geld gar nicht glücklicher macht. "Das ist vielleicht der Zeitpunkt, darüber nachzudenken, ob es auch eine andere Form von Wohlstand gibt, also nicht nur materiellen."
Die Quellen menschlichen Glücks
Ist die Corona-Zeit die Chance, über Wohlstand jenseits von Geld und Gütern zu verhandeln? Und was ist eigentlich ein gutes Leben? Hans-Jürgen Burchardt ist Professor für Internationale Politik an der Universität Kassel. Als Direktor des "Maria Sibylla Merian Center for Advanced Latin American Studies (CALAS)" fördert er den Ideenaustausch mit Lateinamerika. Bei der aktuellen "Entdeckung der Langsamkeit" fand er einen Vorschlag aus Ecuador besonders inspirierend. Dort wurde versucht, das Verhältnis zwischen Wohlstand und Wohlbefinden neu zu definieren.
Als Quellen menschlichen Glücks jenseits von Geld und Gütern wurde "Zeit" identifiziert. Aber Zeit wofür? "Selbstbestimmte Arbeit ist ein wichtiger Punkt, also Arbeit, die Spaß macht und die einen erfüllt. Familie ist ein wichtiger Punkt. Muße ist ein wichtiger Punkt", erläutert Hans-Jürgen Burchardt und ergänzt: "Die Master-Kategorie des Wohlbefindens ist die 'gemeinsame Teilhabe', dass ich für andere etwas tue." Auf dieser Grundlage wurde in Ecuador eine neue Wohlstandsdefinition eingeführt - mit Zeit als zentraler Messeinheit - der "Index des guten Lebens", IGL.
Mehr Zeit ist eine Form des Wohlstands
Schon vor der Corona-Krise waren Zeitknappheit und Entschleunigung in aller Munde. Die Zwangspause durch die Pandemie könnte uns bewusst machen, dass ein Gewinn an Zeit zum Wohlbefinden beiträgt. Voraussetzung dafür, das so empfinden zu können, ist allerdings ein hinreichendes Einkommen und soziale Anerkennung. Wo Arbeit fehlt oder soziale Ungleichheit herrscht, wird man "Zeitwohlstand" kaum genießen können. Der Ausbau des Gemeinwohls sollte deshalb oberstes Gebot sein. Arbeitszeitverkürzung könnte einer der Wege sein, mehr Zeit zu haben. Aber dann hat man natürlich auch weniger Geld.
Burchardt sieht den Gewinn bei diesem Konzept woanders: "Sie haben sich einen neuen, schicken SUV gekauft und fahren damit jeden Tag zur Arbeit und stellen jetzt plötzlich fest, dass Sie zwar ein tolles Auto haben, das ihren ökonomischen Besitz erhöht hat, dass Sie aber jeden Tag eine Stunde im Berufsverkehr im Stau stehen. Tote Lebenszeit", erklärt Burchardt. Ohne den SUV, dafür mit exzellent ausgebautem öffentlichen Nahverkehr - mit Hygiene und Abstandsregeln - könnte man dagegen noch ein tolles Buch lesen. Das sei weniger Besitz - aber ein Gewinn an Lebensqualität.
Verpasste Chancen?
Aktuell sieht Burchardt, dass es Bestrebungen in der Politik gibt, zum alten Zustand zurückzukehren. Er befürchtet verpasste Chancen: "Ich frage mich, warum man Lufthansa mit zehn Milliarden unterstützen muss, ohne dabei ebenso arbeitnehmerrechtliche oder umweltpolitische Perspektiven umzusetzen. Der Staat kann hier eigentlich ganz andere Akzente setzen." Wenn wir jetzt nicht umsteuern, hätten wir in Zukunft ganz andere Probleme, warnt Burchardt: "Dann werden wir die nächste Krise vor uns haben. Nach allen bisherigen Vermutungen oder besser gesagt Kalkulationen können wir davon ausgehen, dass die Corona-Krise für uns relativ lapidar war im Gegensatz zu dem, was uns mit der Klimakatastrophe oder dem Klimawandel erwartet."
After Corona Club: Gesprächsformat mit Anja Reschke
Im After Corona Club spricht Anja Reschke mit Fachleuten aus Psychologie, Wirtschaft, Soziologie, Politik, Medizin und weiteren Wissenschaften. Der Debattierclub über unsere Zukunft. Diskutieren Sie mit! Übrigens: Den After Corona Club gibt es auch als Audio-Podcast.