Hamburg-Neuhof: (K)ein Leben im Schatten der Köhlbrandbrücke
Lärm, Dreck und wenig Licht: Nachdem die Köhlbrandbrücke im Hamburger Hafen im September 1974 fertiggestellt wurde, zogen viele alteingesessene Neuhofer weg. Die Wohngebäude wurden dem Erdboden gleichgemacht.
Als die Köhlbrandbrücke im Hamburger Hafen am 20. September 1974 eingeweiht wird, lässt die Stadt die Korken knallen. Man ist mächtig stolz auf das Jahrhundertbauwerk. 600.000 Menschen laufen an den drei Tagen vor der Verkehrsfreigabe über die Brücke. Mit einem Volksfest nehmen die Hamburger die Querung in Besitz.
Willi Adomeit und Uwe Hansen feiern damals mit. Adomeit wohnt im Ortsteil Neuhof, Hansen schreibt als Reporter für die "Wilhelmsburger Zeitung". Rund vier Jahre ist die Brücke Stück für Stück über den Köhlbrand gewachsen. Baukosten: 160 Millionen D-Mark.
"Eine Meisterleistung", die viel Lärm mitbringt
"Das war schon eine Meisterleistung", sagt Adomeit im Hamburg Journal des NDR 2019 rückblickend. Diese Meisterleistung verändert Adomeits Leben aber auch für immer. Er wohnt damals mit seiner Familie direkt neben der Brücke. Auf der Insel Neuhof führt die östliche Rampenbrücke an einem Wohnquartier für 3.000 Menschen vorbei. "Die war ja direkt vor unserem Fenster. Wenn wir rausgeschaut haben, haben wir die Brückenpfeiler gesehen oder die Fahrbahn. Und es war laut", sagt Adomeit. Wenn sie ein Fenster geöffnet hätten, seien die Geräusche erdrückend gewesen. "Das war nicht besonders vorteilhaft."
Arbeiter wohnen unweit von Industrieanlagen
Einst eine seit etwa 1650 besiedelte und verträumte Fischerinsel ist Neuhof ab 1910 zu einer Arbeiterkleinstadt gewachsen. Die Insel wird in dem Jahr nach Wilhelmsburg eingemeindet. Ab 1906 wird die Vulkanwerft am Rosskanal gebaut. Von 1911 bis 1914 werden 87 vierstöckige Wohnhäuser mit 966 Wohnungen für rund 3.000 Menschen errichtet. Auch viele Kleingärten werden angelegt. Damals entwickelt sich die Gegend bereits zu einem Industriestandort. So bauen etwa die Hamburgischen Electricitäts-Werke 1924 ein Kraftwerk, das mit Steinkohle befeuert wird. Außerdem verfügt es über den damals weltgrößten Dieselmotor.
Eingepfercht zwischen Betonpfeilern und Schornsteinen
1937 kommt Harburg-Wilhelmsburg wie auch Neuhof durch das Groß-Hamburg-Gesetz zur Hansestadt. In der Folge siedeln sich weitere Firmen dort an. Neuhof wird mehr und mehr zu einem Industriegebiet. Bei der Sturmflut 1962 wird viel zerstört.
Die Neuhofer seien ganz tolle Menschen gewesen, offen und ehrlich, sagt Adomeit. "Und trinkfest", ergänzt er. Das Lokal Adomeit Neuhof ist damals Versammlungsort und "Treffpunkt für geselliges Leben". Am Wochenende hätte es regelmäßig Tanz und Musik gegeben. Doch nach dem Bau der Brücke leben die Bewohner eingepfercht zwischen Betonpfeilern und Schornsteinen.
Die Menschen ziehen weg - der Abriss kommt
Neuhof ist damals als Hafenerweiterungsgebiet ausgewiesen. Gewohnt wird quasi nur noch auf Zeit. Nachdem die Köhlbrandbrücke fertig ist, ziehen immer mehr alteingesessene Neuhofer weg. "Die, die in der Nippoldstraße gewohnt haben, haben ja kaum noch das Sonnenlicht gehabt", berichtet Uwe Hansen. Zu dominant ist die Brücke. Und die Kaufleute seien auch weggezogen, die Läden geschlossen worden. "Das war ruinenmäßiger Stillstand dort." Zunächst heißt es, dass dieser Zustand der Bebauung so bleiben solle, sagt Adomeit. "Später hat man uns eröffnet, dass der Abriss unausweichlich ist." Der kommt dann 1979, fünf Jahre nach der Fertigstellung der Köhlbrandbrücke. Bagger mit Abrissbirnen rücken an und machen die Wohnhäuser an der Brücke dem Erdboden gleich.
"Baukultureller Verlust"
Dies sei trotz der damals wenig angenehmen Wohnsituation durchaus "ein baukultureller Verlust im Hinblick auf die Stadtgeschichte", sagt Kristina Sassenscheidt vom Denkmalverein Hamburg im Gespräch mit dem NDR im September 2024. Als letztes Relikt liegt noch heute die alte Schule Neuhof im einst lebendigen Gründerzeitvierteils. Das Gebäude steht unter Denkmalschutz, verfällt jedoch seit Jahren. Das Wohnen auf Neuhof ist Geschichte. Heute sind auf dem Areal nur noch große Unternehmen ansässig.