Ein Mörder, viele Ermöglicher
Der Rechtsextremist Stephan Ernst ist wegen des Mordes an Walter Lübcke verurteilt worden - als alleiniger Täter. Doch war der Neonazi ein Einzeltäter?
In der Nacht auf den 2. Juni 2019 hat Stephan Ernst den Kasseler Regierungspräsidenten Walter Lübcke mit einem Kopfschuss ermordet. Offenbar ganz alleine, ohne Hilfe von Unterstützern, ohne Mitwisser - zumindest gibt es dafür bis jetzt keine Beweise. Während die Bundesanwaltschaft davon ausging, dass Ernsts Freund Markus H. Beihilfe zum Mord geleistet habe, indem er mit ihm das Schießen trainiert und ihn im Hass auf Lübcke bestärkt haben soll, sprach das Gericht sprach H. frei, verurteilte ihn lediglich zu einer Bewährungsstrafe wegen Verstoßes gegen das Waffengesetz.
Das Umfeld eines "Einzeltäters"
Stephan Ernst soll also ein Einzeltäter sein - zumindest juristisch. Doch hat das Umfeld wirklich keine Rolle gespielt? Immerhin hat sich Ernst in diesem Umfeld zum Terroristen entwickelt. Und da ist längst nicht nur seine Karriere in der militanten Neonazi-Szene von Bedeutung: Stephan Ernst fiel ab 1989 mit rassistischen und rechtsextremen Straftaten auf. Er versuchte, ein von Türken bewohntes Haus anzuzünden, später eine Rohrbombe vor einem Flüchtlingsheim zu zünden. Einen türkischen Imam stach er nieder, versuchte ihn zu töten. Nach einer mehrjährigen Haftstrafe zog Ernst Ende der 1990er nach Kassel und vernetzte sich dort mit Gleichgesinnten. Er wurde Mitglied der rechtsextremen NPD, ging zu Neonazi-Treffen und rechten Demonstrationen. Das letzte Mal tauchte Ernst 2011 bei einem Neonazi-Treffen in Thüringen auf. Er verschwand von dem Schirm der Sicherheitsbehörden.
Bürgerliches Leben in Kassel
Stephan Ernst führte von nun an ein vermeintlich bürgerliches Leben. Er wohnte in einem Einfamilienhaus am Stadtrand von Kassel, arbeitete bei einem Unternehmen für Bahntechnik, wurde Mitglied im Schützenverein, übernahm dort als Leiter die Sparte des Bogenschießens. Und genau in diesem bürgerlichen Umfeld konnte Stephan Ernst zum Rechtsterroristen gedeihen.
Auf dem Gelände des Arbeitgebers fand die Polizei Ernsts Waffen, darunter auch den Revolver, mit dem er Walter Lübcke erschossen hatte. Und unter den Kollegen in der Firma fand der spätere Mörder offenbar auch Bestärkung in seinem Hass auf Flüchtlinge und Politiker. Vielen dort war seine rechtsextreme Gesinnung bekannt, zwei kauften sogar Schusswaffen von Ernst.
Die Ermittler haben Arbeitskollegen von Ernst befragt. Panorama konnte die Vernehmungsprotokolle einsehen. Dass Ernst "gegen Ausländer"eingestellt war, sei bekannt gewesen, sagt etwa Kollege B.. Für ihn sei Ernst zwar "rechts"und ausländerfeindlich, aber nicht "extrem", so B.
Kein Widerspruch auf rechte Hetze
Der Arbeitskollege M., der sich selbst "regierungskritisch"nennt, sagte aus, dass Ernst einmal darüber gesprochen habe, man müsse Flüchtlinge in ein Flugzeug setzen und über dem Mittelmeer abwerfen oder erschießen. Für Ernst gehörten "Volksverräter"aufgehängt oder an die Wand gestellt, so M. zur politischen Einstellung von Ernst. Rechte Hetze von Ernst waren die Kollegen offenbar gewohnt, widersprochen hat ihm wohl niemand.
Einige könnten ihn sogar im Hass bestätigt haben. In einer Vernehmung sagte Ernst aus, Kollege A. hätte sich verächtlich über Walter Lübcke geäußert. Ernst habe sich so in seiner Abneigung gegenüber Lübcke bestärkt gefühlt. Über seinen Anwalt bestreitet A. die Vorwürfe. Eingeräumt hat A. jedoch, von Ernst einen Revolver gekauft zu haben.
Auch Ernsts Kollege L. hatte Waffen von ihm gekauft. Bei einer Hausdurchsuchung fand die Polizei Nazi-Devotionalien und AfD-Propaganda. Gegen L. laufen noch Ermittlungen, weil die Ermittler prüfen, ob er mit den Schusswaffen einen Anschlag vorbereiten wollte. Und auch dieser Kollege, mit dem Ernst sogar eine Schießübung auf dem Werksgelände durchführte, hatte mit dem Lübcke-Mörder über die Flüchtlingspolitik gesprochen. Man sei sich einig gewesen, dass etwa Kanzlerin Merkel "weg" müsse. Doch L. habe das nicht als Gewaltphantasie verstanden. Gegenüber Panorama wollte sich L. nicht äußern.
Nach dem Mord an Walter Lübcke geriet auch der Schützenverein in den Fokus, in dem sowohl Ernst als auch der Mitangeklagte Markus H. aktiv waren. Zu einem Schützenbruder von Ernst notierten die Polizisten bei ihren Ermittlungen nach Auswertungen von Chats, dass dieser vermutlich auch dem "rechten Spektrum"angehöre.
Der Vorsitzende des Schützenvereins sagte im Panorama-Interview, dass weder Ernst noch H. als Rechtsextreme aufgefallen sind. Über Politik sei jedoch sehr wohl gesprochen worden, so der Vereinschef. Die Einwanderungspolitik habe schließlich vielen nicht gefallen.
Das frühere NPD-Mitglied Ernst fand eine neue politische Heimat - auch bei einer Partei: Ernst war mehrmals bei AfD-Veranstaltungen in Kassel, beteiligte sich auch am Wahlkampf für die Partei. Mitglied der Partei war er nie. Auf Anfrage teilte die AfD Hessen mit, dass Ernst und sein Umfeld für die örtlichen AfD-Politiker "völlig unbekannt"gewesen seien. Die AfD distanziert sich von dem Rechtsterroristen Ernst und dementierte eine mögliche Nähe.
Anders als etwa die Terroristen des NSU, die unter falscher Identität lebten und von alten Kameraden aus der Szene unterstützt wurden, lebte Ernst ein bürgerliches Leben. Seine politische Einstellung, seinen Hass auf Politiker und Flüchtlinge, musste er offenbar kaum verstecken. Er ist letztlich nicht innerhalb der rechtsextremen Szene zum Mörder geworden, sondern mitten im bürgerlichen Leben.
In Beruf und Freizeit fand der spätere Mörder ein Umfeld von Ermöglichern. Sie trifft keine juristische Schuld. Doch für das Verstehen der Tat ist dieses Ermöglicherumfeld wichtig. Ernst fühlte sich bestärkt in seinem Plan, Lübcke umzubringen. Mit dem aus seiner Sicht empfundenen Rückenwind der Ermöglicher zog Ernst dann 2019 los und ermordete den Politiker mit einem Kopfschuss.