Markus H. bei einer Schießübung © ARD/NDR Foto: Screenshot

Mordfall Lübcke: Panne beim Verfassungsschutz

Stand: 11.06.2020 06:00 Uhr

Der Verfassungsschutz hat Erkenntnisse zu rechtsextremen Aktivitäten des mutmaßlichen Mordhelfers im Fall Lübcke nicht weitergeleitet. In der Folge konnte der Neonazi legal Waffen besitzen.

von Robert Bongen, Julian Feldmann und Nino Seidel

Der Verfassungsschutz hat wichtige Erkenntnisse zum mutmaßlichen Mordhelfer im Fall Lübcke nicht an die Waffenbehörde weitergeleitet. In der Folge konnte Markus H. legal Waffen besitzen. Das haben Recherchen von Panorama ergeben. Im Interview räumt der Präsident des hessischen Verfassungsschutzes ein, dass sein Amt die Informationen nicht übermittelt hat.

VIDEO: Mordfall Lübcke: Panne beim Verfassungsschutz (8 Min)

Seit knapp einem Jahr sitzt Markus H. in Frankfurt in Untersuchungshaft. Der Rechtsextremist muss sich ab nächster Woche vor dem Oberlandesgericht Frankfurt wegen Beihilfe zum Mord an dem Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke verantworten. Die Bundesanwaltschaft wirft H. vor, den mutmaßlichen Mörder Lübckes, Stephan E., an Waffen trainiert zu haben. So soll H. mit E. in einem Wald und in zwei Schützenclubs das Schießen geübt haben. Auch durch die "gemeinsamen Waffentrainings" vermittelte H. dem mutmaßlichen Todesschützen "Zuspruch und Sicherheit für dessen Tat", heißt es in der Anklage des Generalbundesanwalts. Auch soll H. für E. ein Gewehr auf seine Waffenbesitzkarte eingetragen und ihm verkauft haben.

Neonazi Markus H. - zuverlässig im Sinn des Waffenrechts

In der Kasseler Neonazi-Szene galt Markus H. als "Waffennarr". Im Jahr 2012 beantragte er bei der Stadt Kassel eine Waffenbesitzkarte. Die zuständige Waffenbehörde verweigerte H. zunächst eine Erlaubnis, Waffen besitzen zu dürfen - unter Hinweis auf seine rechtsextremen Aktivitäten. Doch H. klagte dagegen und gewann: 2015 sprach ihm das Verwaltungsgericht Kassel das Recht zu, eine Waffenbesitzkarte zu bekommen.

Gerichtssprecherin Christine Lohmann © ARD/NDR Foto: Screenshot
Die Gerichtssprecherin Christine Lohmann erklärt, dass dem Gericht keine Anhaltspunkte vorgelegen hätten, H. nach dem Waffenrecht als unzuverlässig einzustufen.

Das Gericht sah keine Anhaltspunkte für eine Unzuverlässigkeit nach dem Waffenrecht. Hintergrund ist eine Regelung, nach der jemand nur dann als "unzuverlässig" gilt, wenn er innerhalb der letzten fünf Jahre verfassungsfeindliche Bestrebungen verfolgt hat; im Fall von Markus H. also zwischen 2010 und 2015. Der hessische Verfassungsschutz hatte jedoch nur Belege für rechtsextreme Umtriebe bis 2009 gemeldet. "In den letzten fünf Jahren, in dem maßgeblichen Zeitraum, waren keine Vorfälle zu verzeichnen und es gab es keine Anhaltspunkte dafür, dass er sich irgendwie in dem rechtsextremen Milieu bewegt hätte", sagt Gerichtssprecherin Christine Lohmann im Interview mit Panorama. H. durfte somit legal Schusswaffen besitzen.

Neue Recherche: Verfassungsschutz gab Erkenntnisse nicht weiter

Markus H. (l.) und Stephan E. © ARD/NDR Foto: Exif Recherche
Markus H. (l.) wird vorgeworfen, den mutmaßlichen Mörder Lübckes, Stephan E. (r.), an Waffen trainiert zu haben.

Dabei fanden sich in der Verfassungsschutz-Akte von Markus H. nach Recherchen von Panorama auch spätere Erkenntnisse, etwa ein Eintrag aus dem Jahr 2011. Damals hatten die Verfassungsschützer einen rechtsextremen YouTube-Kanal analysiert, den sie H. zurechneten. Dort registrierten die Staatsschützer antisemitische Videos, etwa eines mit dem Titel "Was die Zionisten Deutschland antaten". Sie notierten, unter H.s Freunden seien "zahlreiche Profile, die der rechtsextremistischen Szene zugeordnet werden können". Außerdem lag dem hessischen Inlandsgeheimdienst eine sogenannte Quellenmeldung aus dem Sommer 2010 vor. Ein V-Mann hatte über die Neonazi-Szene in Kassel berichtet und dabei auch erwähnt, dass H. gemeinsam mit anderen Rechtsextremisten aus der Region an einem Neonazi-Aufmarsch teilnehmen wollte.

Die nicht weitergegeben Informationen hätten möglicherweise verhindern können, dass H. legal Schusswaffen erwerben und so mutmaßlich auch Stephan E. unterstützen konnte.

Der Präsident des Landesamtes für Verfassungsschutz in Hessen, Robert Schäfer, räumt im Interview mit Panorama ein, dass Erkenntnisse zu Markus H. nicht übermittelt wurden. Er habe keine Erklärung dafür. Ob es ein Fehler war, könne er heute nicht beurteilen, sagt Schäfer: "Richtig ist, dass wir das heute anders machen würden." Laut Schäfer würden die Waffenbehörden jetzt umfassender informiert werden: "Wir haben aus heutiger Sicht daraus Schlüsse gezogen."

"Heute würden wir das alles übermitteln"

Robert Schäfer © ARD/NDR Foto: Screenshot
Robert Schäfer ist seit Februar 2015 Chef des hessischen Verfassungsschutzes.

"Heute würden wir das alles übermitteln", betont Schäfer im Panorama-Interview. "Heute würden wir uns das genauestens anschauen und gucken, was kann man tun. Sonst würden wir unserem Anspruch, Extremisten dürfen keine legalen Waffen haben, nicht gerecht". Der Verfassungsschutz kümmere sich in den letzten Jahren verstärkt um die rechtsextremen Waffenbesitzer. So gebe seine Behörde Erkenntnisse inzwischen sehr detailliert an die Waffenbehörde weiter, erklärt Schäfer. "Für uns ist ganz klar: Extremisten dürfen keine legalen Waffen haben."

Zu der "Quellenmeldung" aus 2010, die sein Amt ebenfalls nicht weitergegeben hatte, sagt Schäfer, dass nur "offene und gerichtsverwertbare" Informationen an die Waffenbehörden übermittelt werden könnten.

Die Stadt Kassel und die Anwälte von H. wollten sich auf Anfrage von Panorama nicht zu den Recherchen äußern.

Weitere Informationen
Stephan E., Tatverdächtiger im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke. © dpa picture alliance Foto: Uli Deck

Lübcke-Mord: Tatverdächtiger unterstützte AfD-Wahlkampf

Stephan E. hängte AfD-Plakate auf und besuchte Parteitreffen: Nach NDR Informationen unterstützte der Verdächtige im Mordfall Lübcke die Partei tatkräftiger als bisher bekannt. mehr

Stephan E., Tatverdächtiger im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke. © dpa picture alliance Foto: Uli Deck

Lübcke Mord: Tatverdächtiger spricht von zweitem Täter

Der Verdächtige im Mordfall Lübcke hat ein neues Geständnis abgelegt. Wie sein Verteidiger bekannt gab, sagte Stephan E. aus, es habe neben ihm einen zweiten Täter gegeben. mehr

Stephan E., Tatverdächtiger im Fall des ermordeten Kasseler Regierungspräsidenten Lübcke. © dpa picture alliance Foto: Uli Deck

Lübcke-Mord: Verdächtiger kündigt neues Geständnis an

Der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke will ein neues Geständnis ablegen. Der in Untersuchungshaft sitzende Stephan E. beantwortet nun Panorama erstmals Fragen zum Fall. mehr

Lübckes Wohnhaus

Lübcke-Mord: Mutmaßlicher Helfer als Neonazi bekannt

Zwei mutmaßliche Helfer des geständigen, mutmaßlichen Lübcke-Mörders Stephan E. sind festgenommen worden. Einer der Männer gehörte seit Jahren zur Kasseler Neonazi-Szene. mehr

Mann mit Kapuze, Reporter im Hintergrund © NDR Foto: Screenshot

Mutmaßlicher Lübcke-Mörder: Wer ist Stephan E.?

Der mutmaßliche Mörder des CDU-Politikers Walter Lübcke sitzt seit über einer Woche in Untersuchungshaft. Wer ist Stephan E. und in welchem Umfeld bewegte er sich? mehr

Symbolbild: "Combat 18" gilt in der Neonazi-Szene als Code für besonders hohe Gewaltbereitschaft. © NDR Foto: Julian Feldmann

Stephan E.: Zweifel an Geheim-Treffen mit "Combat 18"

Panorama berichtete über "Combat 18" - eine Gruppe von Rechtsextremisten. Der mutmaßliche Mörder von Walter Lübcke war möglicherweise doch nicht mit "C 18"-Mitgliedern bei einer Veranstaltung. mehr

Mordfall Lübcke: Panne beim Verfassungsschutz

Der Panorama-Beitrag vom 11. Juni 2020 als PDF-Dokument zum Download. Download (82 KB)

Dieses Thema im Programm:

Das Erste | Panorama | 11.06.2020 | 21:45 Uhr

Schlagwörter zu diesem Artikel

Terrorismus

Rechtsextremismus

Es fehlt etwas?

Computertastatur © picture-alliance Foto: Christian Ohde

Kontakt zur Redaktion

Sie vermissen einen Beitrag oder ein Video ist nicht abspielbar? Schreiben Sie uns, wir kümmern uns darum. mehr

Weitere Informationen

Kalender © Fotolia.com Foto: Barmaliejus

Panorama-Geschichte

Als erstes politisches Fernsehmagazin ging Panorama am 4. Juni 1961 auf Sendung. Die Geschichte von Panorama ist auch eine Geschichte der Bundesrepublik Deutschland. mehr

Anja Reschke © Thomas & Thomas Foto: Thomas Lueders

60 Jahre Panorama

60 Jahre investigativ - unbequem - unabhängig: Panorama ist das älteste Politik-Magazin im deutschen Fernsehen. mehr

Panorama 60 Jahre: Ein Mann steht hinter einer Kamera, dazu der Schriftzug "Panorama" © NDR/ARD Foto: Screenshot

Panorama History Channel

Beiträge nach Themen sortiert und von der Redaktion kuratiert: Der direkte Einstieg in 60 Jahre politische Geschichte. mehr