Kommentar: Bundesliga? Der HSV ist ein zweitklassiger Scheinriese
Der HSV hat auch im sechsten Jahr den Bundesliga-Aufstieg verpasst. Neu ist: Stadtnachbar FC St. Pauli setzt Hamburg wieder auf die Landkarte der Beletage des deutschen Fußballs. Es ist ein neuer Tiefpunkt für die "Rothosen", dabei ist das "Worst-Case-Szenario" vor allem eins: selbstverschuldet, meint Tobias Knaack in seinem Kommentar.
Die Realität ist eine Zwiebel, die sich in Schichten entschält. Das ist manchmal schmerzhaft und kann zu Tränen führen.
Die "Rothosen" mussten sich seit Freitag und ihrem Auftritt nahe der emotionalen und fußballerischen Nullinie beim 0:1 in Paderborn schon mit einer neuen Realität befassen: in der kommenden Saison erstmals in der Fußball-Geschichte nicht das klassenhöchste Team in Hamburg zu sein. Seit Sonntag haben sie endgültig Gewissheit: Stadtnachbar FC St. Pauli geht nach dem 3:1 gegen Osnabrück am Sonntag hoch in die Bundesliga - und der HSV in sein siebtes Jahr in Folge in der 2. Liga.
St. Paulis Aufstieg ist ein neuer HSV-Tiefpunkt
Es ist eine Art "Worst-Case-Szenario", der neue Tiefpunkt einer aus HSV-Sicht an Nackenschlägen wahrlich nicht armen vergangenen Dekade. Der sich über Jahre qualvoll hinziehende fußballerische Verfall mündete 2018 im Abstieg. Es folgten Pleiten, Pech und Pannen im Versuch, in die Beletage des deutschen Fußballs zurückzukehren.
Doch bei allen seither gescheiterten Anläufen, allen Peinlichkeiten und auch den schlicht tragischen Momenten hatte es für alle, die es mit der Raute halten, noch immer einen Ankerpunkt gegeben: dass man vor dem Stadtrivalen steht.
Dieser Anker ist seit Sonntag weg, die Kette gerissen: St. Pauli ist der Club, der Hamburg nach sechs Jahren Abstinenz wieder auf die Bundesliga-Landkarte setzt. Nicht der Hamburger SV. Diese Realität in Gänze zu begreifen, wird für alle HSV-Anhänger Zeit benötigen. Das wird schmerzhaft sein und kann Tränen hervorrufen. Wie eine Zwiebel eben.
Ein etablierter Zweitligist, der weiter mit der Liga fremdelt
Das Problem mit der Realität an der Sylvesterallee ist, dass man sich nicht so gerne an sie herantraut. Vor allem, weil man auch am Ende der sechsten Saison der Zweitklassigkeit erneut eingestehen müsste, dass der HSV ein Zweitligist ist, der noch immer ein anderes Selbstverständnis zeigt. Das eines Bundesligisten, der sich nur aus Versehen ins Unterhaus verirrt hat. Und man müsste anerkennen, dass dieses Problem hausgemacht ist.
Denn es ist eine Haltung, die sich - wie schon in den vorangegeangenen Spielzeiten - auch in dieser Saison allzu häufig auf dem Platz gezeigt hat. Und die ursächlich für das abermalige Scheitern am selbstgesteckten und selbstverständlichen Ziel ist.
Wie sonst sind - nur stellvertretend - so pomadig-arrogante Spiele wie gegen die Aufsteiger Elversberg oder Osnabrück zu erklären? Oder ein desolater Auftritt wie am Freitag in Paderborn, wenn es um die letzte Chance geht?
Es fehlen Einstellung, Gier und Punch
Wieder einmal wurden - entgegen aller getragenen Aussagen - speziell in Partien gegen Teams aus unteren Tabellenregionen wertvolle Punkte liegen gelassen. Einmal mehr fehlten in zu vielen Begegnungen der unbedingte, der letzte Wille, die Gier und der Punch in der irrigen Annahme einer fußballerischen Überlegenheit.
Ein abermals fataler Trugschluss, denn die mag auf einzelne Spieler bezogen zwar stimmen. Nur werden Fußballspiele als Mannschaft gewonnen, im Team. Als solches hat der HSV mal wieder versagt. Und ist so ein Verein, der numerisch zu den größten des Landes gehört, sportlich aber nur noch ein Scheinriese ist, der in zu vielen Bereichen noch immer nichts dazugelernt zu haben scheint.
Der HSV agiert wie manch deutscher Mittelständler
Der Club ist ein Multi-Millionen-Unternehmen, ein deutscher Mittelständler, der stolz auf das einst Erreichte schaut: auf Triumphe, Trophäen, Tradition. Das darf und sollte Platz haben. Zugleich verhält er sich aber analog zu mancher Firma hierzulande. Er fremdelt noch immer mit der durch veränderte Markt- und Wettbewerbsbedingungen notwendigen Transformation. Und das verhindert Entwicklung.
Ineffizient im Mitteleinsatz, nur bedingt innovativ, diffus satt wirkend, steckt noch immer viel Dino im HSV. Ein gefühlter Weltmarktführer, dessen Geschäfte noch gut laufen. Der zwar merkt, wie die Konkurrenz vorbeizieht, der sich mit der Anpassung an seine Situation aber dennoch unverändert schwertut und darüber droht, den Anschluss zu verlieren. Wenn er ihn nicht schon verloren hat.
Immer wieder ziehen Clubs an den Hamburgern vorbei
Denn nach Etat und sportlichen Möglichkeiten hätte der HSV im Vergleich zu allen Konkurrenten zu diesem Zeitpunkt als direkter Aufsteiger feststehen müssen. Mal wieder. Stattdessen kann er den anderen beim Feiern zuschauen. Mal wieder.
In puncto Seriosität, Spieltaktik und System haben die Aufsteiger Holstein Kiel und St. Pauli mit ihren Coaches Marcel Rapp und Fabian Hürzeler den "Rothosen" in dieser Saison vorgemacht, wie es geht. In den Jahren zuvor waren es Union Berlin, Bochum, Heidenheim und Darmstadt, die ihre Aufstiege mit einem hohen Maß an Solidität schafften. Die Liste ließe sich fortsetzen.
Der Erfolg dieser Clubs fußt auf: seriösem Management, kluger Personalpolitik, effizientem Mitteleinsatz, exzellenten Trainern und dem Mut zu Innovation. Mit einer ausgeprägten Leitungs- und Leistungskultur als Basis.
Die sportliche Bilanz stimmt erneut nicht
Dinge, die man beim HSV noch immer nur in Auszügen sieht. Sicher wurden in den vergangenen Jahre die Finanzen sortiert und konsolidiert. Natürlich wurde speziell durch Ex-Trainer Tim Walter und Sportvorstand Jonas Boldt ein neues Band zwischen Verein, Mannschaft und Fans gespannt. Im Kerngeschäft, erfolgreichen Fußball zu spielen und aufzusteigen, aber stimmt die Bilanz erneut nicht.
Wenn in den kommenden Tagen nun also alle Beteiligten beim HSV ihre Enttäuschung darüber ausdrücken, ist ihnen die sicher nicht abzusprechen. Ein Freispruch für das abermalige Kollektivversagen von Spielern, Trainern und Führung aber ist sie nicht.
Boldt hat zu lange an Walter festgehalten
Und auch wenn nicht nur Erfolg, sondern auch Misserfolg viele Väter haben kann, steht Sportvorstand Jonas Boldt, der seit 2019 im Amt ist, besonders im Fokus. Er hält sich "auch in Zukunft für den Richtigen". Allerdings hat er zu lange an Walter festgehalten und dessen Nachfolger Steffen Baumgart so der Chance beraubt, eine gemeinsame Vorbereitung mit der Mannschaft auf die Rückrunde zu machen.
Zudem ist es ihm nicht gelungen, die seit eineinhalb Jahren bestehende Lücke durch die Dopingsperre von Verteidiger Mario Vuskovic zu schließen. Zum Vergleich: Stadtnachbar St. Pauli hat in dieser Zeit in Karol Mets und Hauke Wahl zwei Abwehrspieler verpflichtet, die die Defensive der "Kiezkicker" stabilisiert haben - und damit mit ausschlaggebend sind für den Aufstieg.
Der markiert für den HSV einen abermaligen Tiefpunkt und bedeutet eine neue "Rothosen"-Realität, die gerade anfängt, sich zwiebelartig zu entschälen: das zweitbeste Fußball-Team der Stadt zu sein. Und dass Bundesliga in Hamburg nur andere können.