WM-Sieg vor 10 Jahren: Die Geschichte(n) der magischen Nacht von Rio
Mario Götze ist besser als Messi, der geschundene Held Bastian Schweinsteiger trifft Gisele Bündchen, Christoph Kramer verabschiedet sich zum Tontaubenschießen auf Timbuktu und Joachim Löw aufs Maracana-Klo: Vor zehn Jahren, am 13. Juli 2014, erlebt Fußball-Deutschland eine magische Nacht in Rio. Die Geschichte(n) eines legendären WM-Finals.
"Diesen Pokal wirklich in den Händen zu halten, und dann auch noch im Maracana in Rio, das war etwas Magisches." Bastian Schweinsteiger kommt auch zehn Jahre später noch ins Schwärmen und Staunen: "Ich war überrascht, wie schwer der Pokal ist. Das denkt man gar nicht."
Sechs Kilogramm wiegt die Trophäe, das Objekt der Begierde für jede Fußballer. Davon fünf Kilo pures Gold. Dass Schweinsteiger sie nun in den Händen halten kann, das mit knapp 75.000 Zuschauern besetzte Maracana und Rio an diesem 13. Juli 2014 einen schwarz-rot-goldenen Jubeltaumel erleben, ist vor allem Mario Götze zu verdanken.
Götzes "Tor für die Ewigkeit" (Joachim Löw) in der 113. Minute zum 1:0-Triumph gegen Messis Argentinien ist die entscheidende Episode dieses Endspiels, das so viele Geschichten zu erzählen hat.
Thomas Müller und der Stutendeal
Thomas Müller, alias "Radio Müller", ist jedenfalls schon weit vor dem Anpfiff auf Sendung. Während Benedikt Höwedes vor dem Finale in eine Tüte atmen muss, um sich zu beruhigen, greift Müller zum Telefon. Ein Kilometer ist es noch bis zum Maracana-Stadion, als der Stürmer aus dem Mannschaftsbus Bayern-Co-Trainer Hermann Gerland anruft.
Um Lauf- oder Passwege geht es aber nicht, sondern um Pferde. "Aus seinem Bestand habe ich meine erste Zuchtstute gekauft und ich habe ihm einen Deal vorgeschlagen", erinnert sich Müller: "Wenn wir gewinnen, dann zahle ich einen hohen Preis, dann kriegt er 10.000 Euro für die Zuchtstute. Wenn wir verlieren, dann muss er ein bisschen runtergehen."
Wie schräg das ist, weiß der damals 23-Jährige - und auch Gerland. "Im Nachhinein hat er gesagt: 'Der ist ja nicht ganz dicht. Der ruft mich vor dem wichtigsten Spiel an und macht irgendwelche Faxen.'" Es ist "Radio Müllers" Art, mit dem Druck umzugehen, sein in die Tüte atmen.
Bastian Schweinsteiger: Erst Gisele Bündchen ...
Schweinsteiger braucht kein Ventil, er genießt diese Spiele und hat nach dem Aufwärmen in den Katakomben des Maracana noch den Blick für Gisele Bündchen - und das Objekt der Begierde. Das brasilianische Supermodel steht bereit, um die WM-Trophäe ins Stadion zu tragen und überrascht Schweinsteiger mit seinen Sprachkünsten. "Ich kann ein bisschen deutsch sprechen hat sie auf deutsch gesagt", erinnert sich Schweinsteiger, der lachen muss und Bündchen für ihre "gute Aussprache" lobt.
.... dann der geschundene Held
Danach ist Schluss mit lustig - vor allem für Schweinsteiger. Der Mittelfeldantreiber wirft sich in jedem Zweikampf, den er finden kann, teilt aus und steckt ohne Ende ein. Das Bild des blutenden Bayern-Profis, der einen Cut unter dem Auge davonträgt, geht um die Welt und in der deutschen Kabine denkt DFB-Physiotherapeut Christian "Chicken" Huhn: "Viele Einschläge darf der jetzt nicht mehr kriegen, sonst bleibt der irgendwann mal liegen."
Aber Schweinsteiger bleibt nicht liegen, er steht immer wieder auf. Er ist in dieser Nacht das Sinnbild des deutschen Triumphs, indem er allen Rückschlägen trotzt. "Mir tat körperlich zwar alles weh, aber der Kopf und der Wille waren komplett da. Für mich war es das beste Spiel, das ich je gemacht habe, weil ich einfach unheimlich präsent war."
Christoph Kramer: Tontaubenschießen auf Timbuktu statt Rio
Während auf dem Platz die "Schlacht" tobt, mit Schweinsteiger mittendrin, ist Christoph Kramer in der Umkleidekabine alles andere als präsent. Er liegt auf einer Liege und hat eine Frage: "Du 'Chicken', wo sind wir hier überhaupt?" Physio Huhn, so etwas wie die Gute-Laune-Zentrale im DFB-Lager, antwortet: "Du Christoph, wir sind beim Tontaubenschießen auf Timbuktu."
Das scheint Kramer, der laut Huhn ebenfalls wirres Zeugs redet, zu beruhigen. Für den "Sechser" ist das Spiel seines Lebens, das aus dem Nichts kam, bereits nach 30 Minuten vorbei. Kurzfristig für den angeschlagenen Sami Khedira in die Startelf gerückt, wird Kramer vom Argentinier Ezequiel Garay derart heftig und unvorbereitet mit der Schulter am Kopf getroffen, dass er kurz das Bewusstsein verliert und raus muss.
"Messi" Mario Götze: "Mach ihn, mach ihn, er macht ihn!"
Für ihn kommt André Schürrle in die Partie. Ja genau, der Schürrle, der Götzes Messi-Moment 72 Spielminuten später möglich macht. Vorher muss Bundestrainer Joachim Löw aber noch den Helden des Abends einwechseln und ihm legendäre Worte mit auf den Weg geben: "Manchmal sind taktische Anweisungen auch irgendwie hinfällig und blödsinnig. Deswegen habe ich zu ihm gesagt: 'Jetzt hast du vielleicht die Chance der Welt zu zeigen, dass du besser bist als Messi, indem du etwas Entscheidendes für uns machst und wir das Spiel gewinnen."
Und Götze liefert. "Das sind diese Momente im Fußball, da muss so viel zusammenlaufen und das Glück auf deiner Seite sein", erinnert sich der Matchwinner. In der 113. Minute läuft alles zusammen, viel Glück ist aber nicht dabei, sondern jede Menge Können.
"Danke Mario, tolle Brust!" Thomas Müller zu Götzes Siegtreffer
Toni Kroos, wie so oft der vorausschauende Dirigent, schickt Kramer-Ersatz Schürrle mit einem einfachen, aber überlegten Pass auf den linken Flügel, Götze zieht schlau nach innen, macht die Seite frei, in die Schürrle zielstrebig hineinstößt. Der Rest ist Fußball-Poesie - mit Schürrles genau getimter Halbfeldflanke und Götzes genialem Moment: Brustannahme und der direkte Abschluss ins lange Eck mit links - wie aus einem Guss. "Besser als Messi!", befindet Löw.
Rahn, Müller, Brehme und Götze
Vier WM-Titel hat Deutschland gewonnen: 1954 musste Helmut Rahn aus dem Hintergrund schießen, 1974 drehte sich "kleines, dickes Müller" unnachahmlich, 1990 zeigte Andi Brehme keine Nerven vom Punkt, aber schöner als Mario Götze 2014 hat niemand Deutschland in den siebten Fußball-Himmel geschossen.
"Das war ein Kunststück", sagt Löw und Müller fasst es auf seine Art zusammen: "Danke Mario, tolle Brust!"
Joachim Löw - Auf dem Klo im Maracana
Im Finale in Rio haut sich Schweinsteiger, wer sonst, ein letztes Mal in einen Luftzweikampf, geht zu Boden, und dieses Mal ist es egal, ob er wieder aufsteht: Schiedsrichter Nicola Rizzoli pfeift das Finale ab - Deutschland ist Weltmeister! "Erleichterung, es endlich geschafft zu haben" (Schweinsteiger), und eine Explosion der Gefühle erfassen Spieler, Betreuer und die Fans auf den Rängen.
Während Franz Beckenbauer 1990 gedankenverloren auf dem Rasen in Rom wandelte, sucht sich Löw 24 Jahre später den stillsten Ort, der sich im WM-Sieg-Wahnsinn um ihn herum finden lässt: ein Klo in den Katakomben des Maracana-Stadions. "Ich wollte einen Moment allein sein und einfach mal fühlen: Ist das wahr? Ist das wirklich passiert, oder ist das nur ein Traum?"
Dass es real ist, merkt der Vater des Erfolges spätestens, als er den goldenen, überraschend schweren WM-Pokal in den Nacht-Himmel von Rio stemmen darf. Aber diese Geschichte hatten wir ja schon...