WM-Sieg 2014: "Warum ich?" - Mertesacker schlaflos in Rio
Per Mertesacker war bei der Fußball-WM 2014 in Brasilien deutscher Führungsspieler - bis er sich auf der Ersatzbank wiederfand und die Welt nicht mehr verstand. Heute hilft der 39-Jährige aus Hannover jungen Talenten, auch mit schwierigen Situationen umzugehen.
Das "Eistonnen-Interview" von Per Mertesacker gehört wohl zu den Legenden der Fußball-WM 2014, die man sich auch in Jahrzehnten noch flachsend erzählen wird. Das deutsche Team war im Achtelfinale gegen Algerien gerade mit Ach und Krach weitergekommen. ZDF-Reporter Boris Büchler befragte den Abwehrspieler kritisch. Und Mertesacker schimpfte: "Wat wollnse? Schön spielen und rausfliegen? Immer diese Fragerei", blaffte er. "Ich leg' mich erst mal drei Tage in die Eistonne. Dann analysieren wir das Spiel und dann sehen wir weiter."
Die Eistonne wurde zum Social-Media-Hit. Später sagten manche, dass eben dieser Wutausbruch des ansonsten so ruhigen Abwehrhünen dem DFB-Team den entscheidenden Schub gab auf dem Weg zum Weltmeistertitel. Doch ausgerechnet Mertesacker fand sich im nächsten Spiel auf der Ersatzbank wieder - und verstand die Fußballwelt nicht mehr.
Auch zehn Jahre danach erinnert sich der 39-Jährige noch leidvoll daran. Es ist ein kalter Tag im Januar. Mertesacker hat sich in seiner Wahlheimat Hampstead in London einen Pub ausgesucht: goldene Zapfhähne bei schummrigem Licht an der Theke, ein Kaminfeuer prasselt. Urgemütlich hier. Das Gegenteil von damals.
Löws "allerschwierigste Entscheidung"
Mertesacker und auch der damalige Bundestrainer Joachim Löw haben es beide noch vor Augen. Die düstere Umgebung, das denkbar kurze Gespräch. Mertesacker wird es später als einen "ganz großen Test" beschreiben. Löw von seiner "allerschwierigsten Entscheidung" sprechen. Das Gespräch lässt beide mit einem schlechten Gefühl zurück. Auch, weil der Spieler es beendet. Er steht einfach auf und geht.
"Per hat zu mir gesagt: 'Trainer, Sie müssen jetzt nicht irgendwie nach Dingen suchen. Ich hab's verstanden. Es ist für mich ein unglaublicher Tiefschlag.'" Joachim Löw
Mertesacker ist bis zu diesem Zeitpunkt im Turnier Führungsspieler. Er steht in allen Gruppenspielen und dem Achtelfinale auf dem Feld. Macht seine Sache gut und reißt die Mannschaft mit. Auf und neben dem Platz - ein Beispiel ist das Eistonnen-Interview. Dennoch entscheidet sich der Bundestrainer vor dem Viertelfinale gegen Frankreich gegen ihn.
Beim "Warum" hört Mertesacker schon gar nicht mehr zu: "Wenn du hörst, du spielst morgen nicht, ist dir alles egal. Du hörst da gar nicht zu. Das ist ja auch unwichtig." Löw selbst windet sich noch heute bei der Frage.
"Ich muss das schlucken und jetzt Vorbild Nummer eins sein"
Mertesacker liegt in dieser Nacht wach und grübelt. Über das Vertrauen des Trainers. Seine Zweifel. Immer wieder die Frage: "Warum ich?" Er schläft keine Sekunde. Draußen geht schon die Sonne auf. Dann steht er auf, geht frühstücken - und fasst einen Entschluss: Er nimmt seine neue Rolle an. "Ich muss das schlucken und jetzt Vorbild Nummer eins sein."
"Weltklasse!" Schweinsteiger zieht den Hut
Gegen Frankreich ist Mertesacker beim Tor der Erste, der von der Bank springt und jubelt. Er feuert die Mitspieler auch von draußen an, reicht den von der Hitze erschöpften Kollegen Wasserflaschen. Der Respekt im Team für ihn wächst damit noch weiter. Bastian Schweinsteiger kann "nur den Hut ziehen. Weltklasse! So wie er war, wünscht man sich heutzutage alle Spieler, die ihre Rolle so akzeptieren."
Vor Anspannung wachliegen, vor Erschöpfung krank werden
Mertesacker gibt alles für das Team, selbst auf der Bank. Danach allerdings ist er krank, zwei Tage lang. Vor Anspannung wachliegen, vor Erschöpfung krank werden: Das sind wohl Stressreaktionen. Ähnliche begleiten Mertesacker durch seine ganze Karriere. Vor dem Anpfiff öfter aufs Klo müssen, Brechreiz. Vor allem Magenprobleme gehören für ihn quasi dazu. Weil Mertesacker immer "alles gibt", alles rausholt aus sich. Für das Team, wie er sagt. So auch in Brasilien bei der WM 2014.
Mertesackers magische Momente im Finale
Löw belohnt Mertesackers Einsatz. Nach der Ersatzrolle gegen Frankreich steht er im Halbfinale gegen Brasilien wenigstens in der zweiten Halbzeit wieder auf dem Platz. Im Finale gegen Argentinien kommt er für die allerletzten Augenblicke ins Spiel. Seine Augenblicke für die Ewigkeit: "Da war ein langer Ball, den ich rausgeköpft habe und ich hatte das Gefühl, die Deutschen jubeln, als wenn ein Tor gefallen wäre", erinnert sich Mertesacker. "Das noch mal aufzusaugen und auf dem Platz zu sein, wenn die Pfeife in diesem Turnier zum letzten Mal ertönt, das war schon magisch."
Weltmeister Mertesacker beendet noch in der Kabine seine DFB-Karriere. "104 Länderspiele, eins mehr als Franz Beckenbauer, jetzt der WM-Titel, und das im Alter von 29 Jahren", sagt er. "Das ist, wo man am Höhepunkt ist und wo man auch Schluss macht."
In der Premiere League spielt Mertesacker noch, bis sein lädiertes Knie ihn zunehmend aus dem Spiel nimmt. Erst später berichtet er ausführlich von den anderen Beschwerden, die ihn Zeit seiner Karriere begleiteten. Seine Stresssymptome waren in der Kabine zwar ein offenes Geheimnis. Aber offen geredet habe er nicht darüber.
Heute blickt er mit auch mit Wehmut auf seine Karriere zurück. "Es gab glückliche Momente in der Fußballerzeit. Aber die gehen so schnell vorbei." Das sei auch das Einzige, was er bereue, sagt er. Jetzt habe er mehr Zeit, über Dinge zu sprechen, sie "auch mal sacken zu lassen".
Vier Jahre nach dem Rücktritt aus der Nationalmannschaft beendet Mertesacker bei Arsenal seine Spielerlaufbahn. In London lebt er mit seiner Familie noch immer. Dort leitet er inzwischen Arsenals Nachwuchsakademie, arbeitet manchmal als TV-Experte.
Vom TSV Pattensen bis zum FC Arsenal
Mertesacker selbst hat nie ein Leistungszentrum durchlaufen. Er schaffte es vom TSV Pattensen, seiner Heimat in der Region Hannover, nach ganz oben. Hannover 96, Werder Bremen, FC Arsenal - nationale Titel in Deutschland und England, dazu die DFB-Krönung. "Weltmeister ohne Talent" nannte er seine eigene Biografie später.
Mertesacker weiß besser als jeder andere, unter welchem Druck die jungen Spieler stehen. In der Nachwuchsakademie des FC Arsenal versucht er, sie mit seinen Erfahrungen so gut es geht zu unterstützen. Auch, damit sie mit den schlechten besser umzugehen lernen, als er es selbst während seiner Karriere konnte.