WM-Sieg 2014: "Ich wollte allein sein" - Löw und die Leere nach dem Titel
Was hat der WM-Titel von 2014 mit den Helden gemacht? Zehn Jahre nach Deutschlands Triumph in Brasilien blicken Spieler und Verantwortliche ganz unterschiedlich auf das Turnier zurück. Für den damaligen Bundestrainer Joachim "Jogi" Löw beginnt unmittelbar nach dem Titelgewinn eine schwierige Zeit.
Überall Leute und Lärm, auf dem Rasen, in den Gängen, der Kabine. Alles tobt und feiert. Aber Jogi Löw will in diesem Moment des Triumphs einfach nur bei sich sein. Also schließt er sich auf dem einzigen Ort ein, der noch Ruhe verspricht: der Toilette im Stadioninneren. "Ich wollte einen Moment allein sein und einfach mal fühlen: Ist das wahr? Ist das wirklich passiert?"
So schildert der heute 64-jährige Jogi Löw die Minuten von damals aus dem Maracanã. Der Bundestrainer ist gerade mit der deutschen Mannschaft Fußball-Weltmeister geworden. Und er braucht erstmal einen Augenblick in der Stille, um das alles zu verarbeiten. Oder wenigstens damit anzufangen.
"Es ist schwer zu beschreiben, aber ich wollte alleine sein und ich habe mich auf einer Toilette eingeschlossen, weil in der Kabine waren auch überall Leute, aber ich wollte fühlen. Ist das wirklich alles so passiert oder ist das nur ein Traum." Joachim Löw
Ein paar Tage nach dem Finale verabschiedet sich Löw von Familie und Freunden in Richtung Sardinien. Er will Abstand gewinnen. Aber auch die selbstgewählte Einsamkeit macht ihm zu schaffen. "Sagen wir mal, meine Stimmung war nicht so auf dem Höhepunkt, wie ich es gedacht hätte, wenn du die WM gewinnst. Das hätte ich so nie erwartet."
Ein einziger Rausch im legendären Maracanã von Rio
Brasilien 2014: Für Deutschland und seine Fans war dieses Turnier ein einziger Rausch. Am Ende stand mit dem Weltmeistertitel im legendären Maracanã von Rio de Janeiro die Krönung. Damals, an diesem feuchtwarmen Juliabend in Rio, dampft der Rasen geradezu. Die Feier ist nach dem Finale in vollem Gange, Konfetti überall. Der goldene Fußballpokal macht die Runde, als Löw sich dem Trubel entzieht. Der Titeltrainer schließt sich in den Katakomben ein. Durchatmen. Einmal sammeln. Dann tritt er heraus ans Mikro und sagt Sätze, die wie einstudiert wirken.
Löw spricht in diesem Moment von einer tiefen Befriedigung und unbeschreiblichen Gefühlen. Wenig einfallsreich, aber eben, was von ihm erwartet wird. Der Trainer ist schließlich am Ziel seiner Träume - so muss man ja denken. Doch in Wahrheit sah es im Menschen Löw dort im Stadionbauch offenbar ganz anders aus.
Zehn Jahre später sitzt Löw in einem Stadthotel in Freiburg. Er trägt noch immer dunklen Rollkragen. Espresso und Spaghetti Carbonara werden aufgetischt, zwischendurch Zigaretten geraucht. Früher konnte er das nur heimlich machen. Freiburg, das ist für den gebürtigen Schwarzwälder Heimat. Als Torjäger hat er mit dem SC viele Jahre in der Zweiten Liga gespielt. Löw fühlt sich wohl hier. Ganz anders als vor zehn Jahren, nach dem WM-Titel.
Verwirrt von den eigenen Gefühlen
Er sei damals selbst von seinen Gefühlen verwirrt gewesen, sagt er. "Wenn man mir vorher gesagt hätte: Du wirst Weltmeister. Dann hätte ich wahrscheinlich gesagt, für die nächsten Jahre bin ich der glücklichste und zufriedenste Mensch der Welt." Er hätte gedacht, mit Euphorie durch den Alltag zu schweben. "Aber das war eben nicht so." Er habe Zeit gebraucht, um alles einzuordnen, "körperlich wie seelisch, um alle Gefühle dann auch zuzulassen."
"Flucht" nach Sardinien
Löw, der stets vor guter Laune und Optimismus strotzte, schien der Erfolg damals überfordert zu haben. Er feiert noch mit der Mannschaft und Millionen am Brandenburger Tor. Dann tritt er nach ein paar Tagen Heimat den Rückzug an. Die Flucht, muss man wohl sagen. Löw will sich auf Sardinien sortieren. Über die eigenen Gefühle im Klaren werden.
"Wenn man mir vorher gesagt hätte: Du wirst Weltmeister. Dann hätte ich wahrscheinlich gesagt, für die nächsten Jahre bin ich der glücklichste und zufriedenste Mensch der Welt. Aber das war eben nicht so." Joachim Löw
Nicht weit weg von einer depressiven Verstimmung
Die Tage in der Villa im Süden vergehen. Löws Stimmung wird nicht besser. Im Gegenteil. Als sein Berater ihn besucht, wollen beide eigentlich mit Rotwein den Erfolg auskosten. Doch Löw tut sich schwer. Schläft schlecht. Spricht von einer inneren Müdigkeit und Leere. Heute sagt Löw, er sei damals nicht weit weg von einer depressiven Verstimmung gewesen.
"Vielleicht hätte man nach dem Titel aufhören können"
Berater Harun Arslan kennt Löw schon lange. Er darf sich sogar dessen Freund nennen. Ein WM-Trikot mit Widmung belegt das. Es hängt in seinem Büro in Hannover, eingerahmt, hinter Glas, mit braun eingetrockneten Bierflecken. Bei einem Gespräch erinnert er sich. Arslan erlebte damals einen veränderten Löw. Nachdenklich statt ausgelassen - sogar schlecht gelaunt. Mit dem Abstand von heute denkt Arslan: "Vielleicht hätte man nach dem Titel aufhören können." Damals hätten beide nicht offen über diese Option gesprochen.
Zweifel nach dem dem großen Triumph
Löw selbst sagt heute, dass ihn damals Zweifel plagten. Fragen drehten sich in seinem Kopf: Wie nun weitermachen? Welche Ziele bleiben? Kann ich dem Team noch neue Impulse geben? Und was überhaupt noch erreichen?
Aufhören auf dem Höhepunkt: wenn es am schönsten ist, wie man oft sagt. Das ist etwas, was nicht vielen im Sport vergönnt ist und den wenigsten gelingt. Kapitän Philipp Lahm und die Führungsspieler Miroslav Klose und Per Mertesacker erklärten nach dem WM-Titel ihren Rücktritt aus dem Nationalteam. Bundestrainer Löw blieb. Obwohl er schon zu ahnen schien, dass es von jetzt an nur noch abwärts gehen konnte.
Heute fragt er sich, ob er nicht zu lange an seinem Job festhielt. Er sei später nicht mehr so frei, so unbefangen gewesen, sagt Löw: Die Lockerheit habe fortan gefehlt.
Weniger Tackling, mehr Tiki-Taka für Deutschland
Dabei war die einmal Teil seines Erfolgs gewesen. Ebenso wie die Spielidee, die er dem Team nach der Übernahme 2006 nach und nach verpasst hatte: weg vom vermeintlich tugendhaften Rennen und Kämpfen, weniger Tackling, mehr Tiki-Taka - abgeschaut von Spanien und weiterentwickelt für Deutschland. Die Evolution fand in Brasilien ihre Krönung. Und vorläufig auch ein Ende.
"Vielleicht wäre es besser gewesen, das Zepter früher zu übergeben." Joachim Löw
Das DFB-Team erlebte nach dem Titel einen zunächst schleichenden und dann rasanten Absturz. Reichte es bei der EM 2016 in Frankreich noch fürs Halbfinale, war bei der WM 2018 in Russland in der Vorrunde Schluss. "Fast schon arrogant" nannte Löw die eigene Spielweise danach. Es folgte das Aus im EM-Achtelfinale in London 2021. Löw trat zurück. Unter seinem früheren Co-Trainer und Nachfolger Hansi Flick scheiterte die Mannschaft bei der WM in Katar erneut in der Gruppenphase.
In diesem Sommer steht dem deutschen Team eine Europameisterschaft im eigenen Land (14. Juni bis 14. Juli) bevor. Der DFB hofft, dass es langsam wieder aufwärts geht. Schon vor dem ersten Anstoß haben sich der Verband und Bundestrainer Julian Nagelsmann auf eine weitere Zusammenarbeit bis zur WM 2026 geeinigt.
Weltmeistermacher Jogi Löw hatte nach seinem Rücktritt diverse Angebote. An die Seitenlinie zurück kehrte er bislang nicht.