"Dann bist du mausetot" - Höwedes und die Katastrophe vor dem WM-Titel
Am 27. Mai 2014 rast Benedikt Höwedes als Beifahrer von Rennfahrer Pascal Wehrlein durch die Alpen. Der Tag, der Abwechslung in den Trainingslager-Alltag der deutschen Fußball-Nationalmannschaft bringen soll, endet in einer Katastrophe. Im späteren WM-Lärm wird der Unfall zur Randnotiz, Weltmeister Höwedes beschäftigt er bis heute.
Benedikt Höwedes stockt noch immer der Atem, hier im Passeiertal in Südtirol. Zehn Jahre nach dem schrecklichen Unfall, der das Leben des Weltmeisters und vor allem das eines Urlaubers aus Thüringen für immer veränderte, ist Höwedes nach St. Martin zurückgekehrt. Steht nun an der Stelle, an der es damals passierte. "Es gab zwei Optionen. Entweder du fliegst hier runter und dann bist du mausetot, oder du knallst hinten aufs Auto. Das wäre auch nicht gut ausgegangen für alle Beteiligten", erinnert sich der 36-Jährige.
Es ist eng hier auf der Bergstraße, links liegt das Ferienhaus Holzerhof, rechts geht es zwei-, dreihundert Meter steil bergab ins Tal. Der Trainingsplatz in St. Leonhard, wo sich die deutsche Fußball-Nationalmannschaft im Mai 2014 auf die WM in Brasilien vorbereitete, ist aus der Vogelperspektive zu sehen.
Mit knapp 100 km/h auf der engen Bergstraße
Weit weg und in diesem Moment unwichtig. Mit knapp 100 km/h rasen damals Formel-1-Fahrer Nico Rosberg und DTM-Pilot Pascal Wehrlein die kurvige, abgesperrte Bergstraße mit zwei 600 PS-starken Rennwagen des DFB-Sponsors Mercedes hoch. Julian Draxler sitzt bei Rosberg im Auto, das vorausfährt, Höwedes bei Wehrlein. Nur sechs Meter trennen die beiden Autos. "Mit Vollgas zur WM" schwingt als Untertitel bei dieser PR-Aktion mit. Es endet in einer "absoluten Katastrophe", wie Höwedes auch ein Jahrzehnt später sichtlich bewegt berichtet.
"Auch, wenn mich keine Schuld trifft, fühlt man sich trotzdem mitverantwortlich für ein anderes Leben, das nicht normal weitergelebt werden kann. Das ist ein ganz, ganz blödes Gefühl." Benedikt Höwedes
"Wir waren so nah dran, dass ich und auch Wehrlein nichts sehen konnten. Da, vor der Absperrung standen zwei Leute, die offensichtlich Handzeichen gegeben haben. Entweder 'Halt mal an für ein Autogramm', oder irgendwas ist. Nico Rosberg konnte es auf jeden Fall nicht einschätzen und macht eine Vollbremsung", erinnert sich Höwedes.
Alles geht blitzschnell, Wehrlein muss in Bruchteilen von Sekunden reagieren und entscheidet sich für Option drei. Der damals gerade 19 Jahre alte DTM-Pilot zieht links an Rosberg vorbei, auf die Hauseinfahrt, die dort ist. Ein Reflex, der mutmaßlich Leben rettet und trotzdem dramatische Folgen hat.
"Das war traumatisch"
Auf der Auffahrt stehen zwei Männer, der Urlauber aus Thüringen und ein Streckenposten. "Den einen haben wir ein bisschen am Rücken erwischt und der andere schlug direkt vor meiner Nase in die Windschutzscheibe ein. Das war traumatisch", erzählt Höwedes. "Ich weiß noch, wie ich einfach die Tür aufgerissen habe und rausgetaumelt bin. Alle waren am Schreien, aber ich konnte überhaupt nicht reagieren. Ich war wie gelähmt. Ich sah den Mann blutend am Boden, war absolut nicht in der Lage für Erste Hilfe, geschweige denn einen Notruf abzusetzen."
Höwedes hilft dem schwer verletzten Urlauber
Der unverletzte Nationalspieler steht unter Schock, fängt sich nach ein paar Minuten aber wieder und hilft dabei, den schwer verletzten Urlauber aus Thüringen in den Helikopter zu tragen. Der Mann überlebt, hat aber schwer mit den Unfallfolgen zu kämpfen. Bis zum heutigen Tag ist er pflegebedürftig. Mercedes einigt sich später außergerichtlich mit der Familie des Opfers, leistet eine Einmalzahlung. Der damalige Nationalmannschafts-Manager Oliver Bierhoff macht nach der WM einen Krankenbesuch und bietet der Ehefrau seine Hilfe an.
In Südtirol im Mai 2014 geht das Fußball-Leben trotz des schrecklichen Unfalls irgendwie weiter. Das für den Tag angesetzte Testspiel gegen die U20 des DFB wird gestrichen, aber Höwedes und Co. stehen nur wenige Stunden danach auf dem Trainingsplatz - und knapp sieben Wochen später im legendären Maracana-Stadion in Rio mit dem WM-Pokal in der Hand.
Vom "Notnagel" hinten links zu Mr. Zuverlässig
Innenverteidiger Höwedes ist neben Kapitän Philipp Lahm und Torwart Manuel Neuer der Einzige, der beim deutschen WM-Triumph in Brasilien jede Minute auf dem Platz steht. Ausgerechnet er, der bei der starken Konkurrenz in der Innenverteidigung noch befürchten musste, kurz vor dem Turnier aus dem Kader zu fliegen.
In Brasilien wird Rechtsfuß Höwedes dann als "Notnagel" hinten links eingesetzt. Bundestrainer Joachim Löw setzt auf den oftmals unterschätzten Profi vom FC Schalke 04 und verteidigt ihn gegen öffentliche Kritik. "Wir wussten, dass der 'Benni' ein Spieler ist, der absolut zuverlässig ist, der Prototyp eines Mannschaftsspielers", sagt Löw rückblickend.
Tränen nach Götzes Final-Tor
Weltmeister Höwedes beschreibt Mario Götzes Tor im Finale am 13. Juli 2014 gegen Argentinien als den emotionalsten Moment. "Da sind mir wirklich Tränen in die Augen geflossen und ich bin mit Tränen in diese Jubeltraube gelaufen. Der ganze Stress, der ganze Druck ist so in einem abgefallen. Ich konnte es auch gar nicht kontrollieren, das hat krass viel ausgelöst bei mir."
"Ich habe daran immer noch zu knacken - insofern, dass ich als Beifaher Probleme habe. Wenn jemand zu dicht auffährt, kriege ich immer noch schweißnasse Hände." Benedikt Höwedes
Der Rucksack, mit dem der Profi nach dem Unfall im Trainingslager nach Brasilien reist, ist schwer. Im Mannschaftshotel Campo Bahia wacht Höwedes immer wieder mit schweißnassen Händen auf. "Ich hatte immer wieder diesen Moment vor Augen, wie der Mann in meine Windschutzscheibe vor mir einschlägt."
Eine traumatische Erfahrung, die ihn bis heute beeinflusst. "Ich habe daran immer noch zu knacken insofern, dass ich als Beifahrer Probleme habe. Wenn jemand zu dicht auffährt oder so, dann kriege ich immer noch schweißnasse Hände."