Der letzte Pass ist gespielt - Mit Toni Kroos geht einer der Größten
Die Fußball-EM ist für Deutschland vorbei und damit auch die Karriere von Toni Kroos. Mit dem Greifswalder geht einer der größten deutschen Mittelfeldspieler vom Platz, den kein Zweiter so beherrscht hat wie er mit seinen Pässen. Eine Würdigung.
Der letzte Ball gehörte Toni Kroos. Im EM-Viertelfinale gegen Spanien lief bereits die sechste Minute der Nachspielzeit der Verlängerung. 2:1 für Spanien. Freistoß von halblinks. Kroos, schon lange am Ende seiner Kräfte, von Krämpfen geplagt, legte sich den Ball zurecht und die Hoffnung war wieder da. Ein genialer Pass in Form einer Freistoßflanke auf den Kopf von Niclas Füllkrug noch und ein 2:2 und das Elfmeterschießen wäre möglich.
Der Ball flog, aber nach zwei Stunden intensivem Abnutzungskampf mit dem 34-Jährigen mittendrin fehlte die letzte Schärfe und Präzision. Unai Simon fing die Flanke ab, Schlusspfiff, deutsches EM-Aus, bitteres Karriereende für Kroos.
Mehr als 600 Kilometer mit knapp 38.000 Pässen
Trotzdem war Kroos' letzter Steilpass, zur Ausnahme mal ohne Abnehmer, der Schlusspunkt für eine Statistik, die im Weltfußball ihresgleichen sucht: Knapp 38.000 Pässe hat der Greifswalder den GSN-Daten zufolge seit der Saison 2014/2015 gespielt, gut 35.000 kamen an - macht eine Passquote von über 95 Prozent. Dabei hat Kroos mehr als 600 Kilometer mit dem Ball überbrückt, der bekanntlich schneller als jeder Spieler ist.
Nimmt man die Jugend- und ersten Profi-Jahre noch dazu, dürfte Kroos die Kugel wohl insgesamt auf eine weitaus längere Reise als von Greifswald nach München geschickt haben.
"Egal, was noch kommt, oder welche Hobbys ich mir noch zulege: Es wird nie wieder etwas geben, was ich so gut können werde wie Fußball spielen." Toni Kroos
Die Verantwortlichen beim FC Bayern hatten früh erkannt, dass der Blondschopf aus dem Luftlinie 674 Kilometer entfernten Vorpommern begnadet und seiner Zeit voraus ist. Davon zeugt auch ein Anruf von Mehmet Scholl bei Uli Hoeneß aus dem Jahr 2006.
Als Mehmet Scholl Uli Hoeneß anrief
Europameister Scholl hatte bei der Bayerns U19 mittrainiert und war dabei auf Kroos getroffen. Nach 30 Minuten sei er zum damaligen A-Jugend-Trainer Kurt Niedermeyer gegangen und habe sich erkundigt: "Wer ist der? Was macht der hier? Der muss zu uns rüber!" Zu Bayern-Manager Hoeneß sagte Scholl am Telefon: "Pass auf! Ich habe einen Spieler gesehen, der bei uns mittrainieren muss. Das ist Wahnsinn."
"Fußball spielen konnte der, das war unglaublich"
Eine Woche später stand der 16-Jährige, den die Münchner für stolze 2,3 Millionen Euro aus der Jugend von Hansa Rostock geholt hatten, bei den Bayern-Profis auf dem Platz und überzeugte auch dort auf Anhieb. Wären die DFB-Statuten anders gewesen, Kroos' Profikarriere hätte wohl noch früher als am 26. September 2007 begonnen.
In der 72. Minute gegen Energie Cottbus eingewechselt, steuerte der 17-jährige Kroos noch zwei Torvorlagen für Miroslav Klose zum 5:0-Sieg der Bayern bei. Eben jenem Klose, mit dem der damalige Jungspund aus Greifswald sieben Jahre später Weltmeister wurde und dem er in der Kabine vor den Spielen bei aufkommender Nervosität immer sagte: "Wir gehen doch nur Fußball spielen."
Neben seinem herausragenden Spielverständnis und den überragenden technischen Fähigkeiten, war das wohl Kroos' größte Stärke: diese selbstbewusste Gelassenheit im vom Erfolgsdruck bestimmten Profigeschäft, das Vertrauen in die eigene Stärke, mit der Gewissheit im Hinterkopf: ein schlechtes Spiel macht mich nicht zu einem schlechten Menschen.
"Rudi Völler hat gesagt, dass er seit seinem 18. Lebensjahr Eiswürfel pinkelt." Bundestrainer Julian Nagelsmann
Nicht ohne Grund gehöre Ehefrau Jessica der größte Dank, so Kroos. "Sie ist immer da. Die Trainer haben gewechselt, die Mitspieler auch, sie nie. Diese Sicherheit, dieses Geregelte ist in einer Karriere so wichtig." Bundestrainer Julian Nagelsmann hat es auf seine Weise ganz gut auf den Punkt gebracht: "Rudi Völler hat gesagt, dass er seit seinem 18. Lebensjahr Eiswürfel pinkelt. So ähnlich ist es wahrscheinlich."
Vorausschauendes Fußballspielen in Perfektion
Der coole Kroos war auf dem Platz die Sicherheit in Person für seine Mitspieler. Immer anspielbar, immer mit einem (Pass)-Plan im Kopf. Vorausschauendes Fahren wird Fahrschülern vom ersten Moment an eingeimpft, wenn sie sich das erste Mal hinter das Steuer setzen. Gefahren frühzeitig erkennen, rechtzeitig und angemessen reagieren. Kroos hat das vorausschauende Fußballspielen in die Wiege gelegt bekommen, war im Kopf schon drei Pässe weiter, wenn er seine gespielt hat.
Metronom Madrids und "Legende" der "Königlichen"
50-Meter-Flugball genau in den Fuß des Mitspielers, steil in die Gasse oder ja, auch kurz quer und wieder zurück: Er hat mit Pässen kommuniziert und Mannschaften dirigiert. Nicht zuletzt die größte und schillerndste des Weltfußballs. Zehn Jahre lang der Taktgeber, das Metronom von Real Madrid gewesen zu sein und bei den "Königlichen" als "Legende" verabschiedet zu werden, spricht für sich.
Die Aura des Erhabenen, die die "Königlichen" umweht, hat in der Nachbetrachtung auch viel besser zu Kroos gepasst als das manchmal Hemdsärmelige der Bayern. Ein Blick auf die bei ihm immer weißen Schuhe waren da schon ein Fingerzeig.
Abgang "auf dem Höhepunkt meines Schaffens"
Ohne EM-Pokal, dafür aber mit mehr Titeln als jeder andere deutsche Fußballer im Briefkopf, darunter unglaubliche sechs Champions-League-Siege, hört der Weltmeister von 2014 nun auf. Selbstbestimmt, "auf dem Höhepunkt meines Schaffens", wie Kroos es verlässlich selbstbewusst formuliert hat, ohne "dass die Leute mir sagen müssen, jetzt reicht's".
"Es reicht noch lange nicht, Toni", haben viele eher gesagt, aber für Kroos schon. "Es wird die Momente geben, in denen ich den Fußball vermissen werde. Vor allem das Spiel an sich. Weil ich mir auch bewusst darüber bin: Egal, was noch kommt, oder welche Hobbys ich mir noch zulege: Es wird nie wieder etwas geben, was ich so gut können werde wie Fußball spielen", hat er gesagt.
Das stimmt wohl. Kroos' letzter Pass auf dem Fußballplatz ist gespielt, der letzte Plan an die Mitspieler verschickt. Aber man kann sich sicher sein, der begnadete Kicker aus Greifswald wird auch einen für das Feld des Lebens haben.