Verfassungsschutz: Reichsbürgerszene bekommt massiven Zulauf

Stand: 17.05.2023 13:35 Uhr

Krisenzeiten sorgen bei den Reichsbürgern offenbar für Zulauf: Der Verfassungsschutz beobachtet, dass die Szene stark wächst. Und erwartet eine weitere Radikalisierung.

von Constantin Gill

Auch wenn der festgenommene Prinz Reuß samt Gefolge keine Verbindungen nach Schleswig-Holstein hatte: Für die Verfassungsschützer im Land zeigt der Fall aus NRW - in dem die Reichsbürger den Staat stürzen wollten - die Gewaltbereitschaft der Szene. In Schleswig-Holstein zählen laut Verfassungsschutzbericht inzwischen 640 Menschen zur Reichsbürgerszene. Ein Zuwachs von rund einem Drittel.

"Der massive Zulauf in dieser Szene hing teilweise mit diffusen Zukunftsängsten zusammen", sagt Innenministerin Sabine Sütterlin-Waack (CDU) bei der Vorstellung des Verfassungschutzberichtes 2022.

Auslöser dieser Ängste seien "nahezu zeitgleich eingetretene und parallel ablaufende Ereignisse" gewesen, "die als tiefgreifende existenzielle Krisen wahrgenommen wurden: Klimawandel, Pandemie, Krieg in Europa, Energie- und Wirtschaftskrise."

Die Siedler von Owschlag

Parkendes Polizei und Zivilauto auf einem Landweg © Sven Brosda Foto: Sven Brosda
In Owschlag errichteten Reichsbürgergruppe Wohncontainer.

Wer eine Affinität zu Verschwörungstheorien habe, so die Ministerin, habe Anschluss an die Szene bekommen, die genau diese Themen aufgegriffen habe. Ein Teil der Szene sei gewaltbereit, so Sütterlin-Waack. Ihre Prognose: "Die erkennbare Radikalisierung dürfte sich fortsetzen. Über einige Internetkanäle wie Telegram wird sich die Szene auch stärker vernetzen."

Öffentlich in Erscheinung getreten sind Reichsbürger und Selbstverwalter kaum. Auch die Zahl der Straftaten ist überschaubar. Der Verfassungsschutz stellte allerdings "Siedlungsbestrebungen" fest. Etwa in Owschlag, wo die Gruppe "Königreich Preußen" Wohncontainer auf einer landwirtschaftlichen Fläche errichtete. Das sei aus Sicht der Innenministerin "zumindest beachtenswert" - denn manchmal vertieften sich Gedanken ja beim Zusammenwohnen.

"Die Gruppe aus Owschlag rief ein 'Königreich Preußen' aus und leugnete die Rechtsordnung der Bundesrepublik Deutschland. Zur Etablierung des 'Königreich Preußen' wurden Wohncontainer und ähnliche Bauten auf einer landwirtschaftlichen Fläche errichtet, videoüberwacht und eingezäunt. Da dafür keine Genehmigung vorlag, verfügten die zuständigen Behörden den Abbau und räumten schließlich fast das komplette Grundstück. Eine Fortführung des 'Königreich Preußen' an dieser Stelle ist unwahrscheinlich." Verfassungsschutzbericht 2022

Affinität zu Waffen

Abgesehen davon beschränkten sich die Reichsbürger der Ministerin zufolge in der Regel darauf, Behörden im Reichsbürger-Duktus anzuschreiben. Die Affinität zu Waffen bleibe hoch, so Sütterlin-Waack: "Diese Entwicklung werden wir als Landesregierung sehr ernst nehmen und wir werden weiter konsequent dagegen vorgehen."

"Gruppierungen aus diesem Phänomenbereich traten nicht nur durch ihre teils skurrilen Auffassungen in Erscheinung, einige belegten erneut ihre ausgeprägte Affinität zu Waffen." Verfassungsschutzbericht 2022

Extremisten-Mischmasch mit flexiblem Themenmix

Seit Ende 2020 beobachtet der Verfassungsschutz auch sogenannte "Delegitimierer" - sie traten erstmalig auf Demonstrationen gegen die Corona-Demos auf. Später schwenkten sie auf die Themen Inflation, Energiekrise und den russischen Angriffskrieg gegen die Ukraine um. Sie zogen laut Verfassungsschutzbericht "Extremistinnen und Extremisten unterschiedlichster Couleur an".

Eine zusätzliche Mobilisierung gab es dadurch nicht, aber der Bericht kommt zu dem Schluss, dass Radikalisierungsprozessen dadurch weiter Vorschub geleistet werden kann.

"Dieses extremistische Konglomerat aus Rechtsextremistinnen und Rechtsextremisten, Reichsbürgerinnen und Reichsbürgern und verfassungsschutzrelevanten Delegitimiererinnen und Delegitimierern kann Radikalisierungsprozessen weiter Vorschub leisten. Die Szene nutzte zur Kommunikation und Vernetzung den Messengerdienst Telegram, der sich erneut als Beschleuniger zur Verbreitung von Verschwörungstheorien erwies." Verfassungsschutzbericht 2022

350 gewaltbereite Rechte im Land

Natürlich bleiben auch die anderen Extremismusfelder Thema: Die Aufklärung rechtsextremistischer Bestrebungen und Netzwerke sei ein Schwerpunkt der Arbeit des Verfassungsschutzes gewesen, so Sütterlin-Waack. 1.220 Personen zählt der Verfassungsschutz zur rechtsextremistischen Szene. Ein Anstieg um 1,7 Prozent. Als gewaltbereit zählen nach wie vor 350 von ihnen.

Aus der rechten Ecke kommen die meisten Straftaten im Bereich der politisch motivierten Kriminalität. Die Zahl der Taten stieg demzufolge 2022 leicht an - die Aufklärungsquote ist aber hoch: "Mehr als jedes zweite Delikt und mehr als neun von zehn Gewaltdelikten konnten aufgeklärt werden", so Innenministerin Sütterlin-Waack.

Linke wollen Klimaproteste kapern

Im Bereich Linksextremismus hat der Verfassungsschutz vor allem die Klimabewegung im Blick: Nach der Corona-Pandemie sei besonders die "TurboKlimaKampfGruppe" in Erscheinung getreten. Laut Bericht war aber nicht feststellbar, "dass die linksextremistische Szene trotz der Anschlussfähigkeit des Themas Klimaveränderung ins zivilgesellschaftliche Spektrum ihre politischen Ziele platzieren und somit die Auseinandersetzung mit der Klimafrage maßgeblich beeinflussen konnte".

In Bezug auf Islamismus sieht die Innenministerin nach wie vor eine abstrakte Gefährdungslage. Die sei "nach wie vor konstant hoch". Das hätten die Festnahmen von zwei Brüdern iranischer Herkunft im Januar 2023 in Castrop-Rauxel sowie von zwei syrischen Brüdern im April 2023 in Hamburg und Kempten gezeigt, die jeweils mutmaßlich einen islamistisch motivierten Anschlag geplant hatten. Insgesamt zählt der Verfassungsschutz in Schleswig-Holstein derzeit nach wie vor insgesamt 868 Islamistinnen und Islamisten, 750 davon ließen sich dem Salafismus zuordnen.

In allen Bereichen, verspricht die Innenministerin, werde man extremistischen Tendenzen "entschlossen entgegentreten".

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Dieses Thema im Programm:

NDR 1 Welle Nord | Nachrichten für Schleswig-Holstein | 17.05.2023 | 15:00 Uhr

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