Pflegen ohne Zeitdruck: "Schwester Jette" zeigt, wie es geht

Stand: 25.03.2023 05:00 Uhr

Jette Petersen arbeitete früher "auf Station", jetzt bei einem Ambulanten Pflegedienst in Bösdorf im Kreis Plön. Zeit zum Schnacken, gegenseitige Wertschätzung - die junge Frau ist glücklich über den Wechsel.

von Lisa Knittel

"Ich hab Kuchen dabei!" Jette Petersen beugt sich vor und spricht in die weißen Plastikschlitze der Gegensprechanlage. In der linken Hand hat sie ein kleines Papierpäckchen von einem Eutiner Bäcker. "Ich begleite Frau König auch oft in die Stadt in ein Café, aber heute muss sie zum Impfen, also kommt der Kuchen mit mir zu ihr", erklärt die 24-Jährige, drückt die surrende Tür zum Mehrfamilienhaus auf und begrüßt strahlend auf dem ersten Treppenabsatz ihre "Kundin", wie die blonde Ostholsteinerin ihre Senioren nennt. "Ich liebe Kuchen!", schallt es ihr entgegen. Renate König hat sich schick gemacht: Bordeauxfarbenes Jackett, goldene Brosche in Blattform und ein Gesichtsausdruck, der sich über Jette und die Süßspeise gleichermaßen freut.

Seit 1984 wohne sie schon genau in dieser Wohnung, erzählt die Seniorin, während sie Jette mit ihrem Rollator in die kleine Küche folgt. "Gut, dass wir heute drinnen sind, Frau König, es regnet Bindfäden." Jette trägt die schwarz-weiße Ton-Kaffeekanne ins Wohnzimmer, gießt Kaffee und Milch ein. "Danke, Schwester Jette!" Die 86-jährige Eutinerin hat auf ihrem Polstersessel Platz genommen. Es gibt Nusstorte. "Ich bin gebürtige Lübeckerin", sagt Renate König. "Nuss-Sahne muss sein! Für 'ne Hanseatin wie mich." Jette und Frau König lachen.

Schnacken - das Wichtigste in der Betreuungspflege

Jette Petersen springt nochmal auf und holt die Kaffeesahne. Zu Hause durchwischen, Arztbesuche begleiten oder zusammen einkaufen – das alles sind Leistungen in der Betreuungspflege - bezahlt von den Kassen. "Wenn ich die Servicegespräche führe, wo wir genau festlegen, wer was braucht, reagieren die Menschen immer ganz ungläubig." Sie gibt einen Schuss Sahne in die kleine Tasse, die auf dem Rollator von Frau König platziert ist. "Den brauche ich – Arthrose im Endstadium." Die alte Dame zieht die Brauen schmerzerfüllt hoch. "Ich hatte schon fünf Pflegedienste, bevor ich von Schwester Jettes Dienst erfahren habe. Früher haben die Leute immer gewechselt, es gab dauernd Absagen und niemand hat mal gefragt: 'Was brauche ich eigentlich?' Die eine hat jedes Mal die Kacheln im Bad geputzt. Die Kacheln!! Da gibt es doch wirklich Wichtigeres!"

Ans Herz gewachsen

Die Hand der alten Dame liegt in der Hand von Jette Petersen. Eine Nahaufnahme der Hände. © NDR Foto: NDR
Viel Zeit, viel Gefühl, ein bisschen Körperkontakt: Diese Art von Pflege mag Jette Petersen.

Die Seniorin nimmt entrüstet eine weitere Gabel von ihrem Tortenstück. Jette greift ihre freie Hand. "Bei Frau König steht die Begleitung, das miteinander Sprechen im Fokus, also die Betreuung. Mit ihrer Pflegestufe zwei heißt das: zweimal die Woche für zwei Stunden." Jette drückt die Hand ihrer "Kundin" und Renate König strahlt: "Das ist so toll, wir fahren in die Stadt zusammen und gehen erst mal frühstücken." Jette gehe dann mit ihrer Liste einkaufen. Auf die Tage Montag und Mittwoch freue sie sich immer, sie brauche diese Gespräche. "Ich werde 87, mein Mann ist tot, meine Tochter hab' ich seit 18 Jahren nicht gesehen. Schwester Jette ist mir sehr ans Herz gewachsen."

Mut zum Wechsel: "Dieser Leistungsdruck, ich konnte einfach nicht mehr"

Es klingelt an der Haustür. "Frau König, ihr Taxi, das Sie zum Impftermin bringt, ist da." Jette Petersen hilft ihrer Kundin in die Jacke und hakt sie vor der Tür ein. Die Taxifahrerin verstaut den Rollator im Kofferraum und Frau König winkt. "Zwei Stunden, die gehen immer so schnell um. Bis Mittwoch, Schwester Jette!" Die Pflegedienstleiterin winkt dem Taxi hinterher und steigt in ihr eigenes Auto. "Nach meinem ersten Besuch hatte ich am ganzen Körper Gänsehaut. Endlich konnte ich jemandem die Wertschätzung entgegenbringen, die derjenige verdient hat", erinnert sie sich an ihren ersten Arbeitstag beim ambulanten Pflegedienst. 2018 wurde Jette Petersen bekannt als jüngste Pflegefachkraft Deutschlands. "Früher auf Station hatte ich bis zu 100 Patienten am Tag. Da war ich kaum durch die Tür, da hat schon der nächste geklingelt. Und zu Hause habe ich mich dann dauernd gefragt: Hast du auch die richtigen Medikamente gegeben? Dieser Leistungsdruck, ich konnte einfach nicht mehr!"

Sie biegt mit dem weißen Kleinwagen auf die B76 Richtung Kiel. Neben ihrer Arbeit im Drei-Schicht-Dienst hat sie per Fernstudium ihre Weiterbildung zur Pflegedienstleitung gemacht und dann im Juni 2022 ihren Arbeitgeber gewechselt. "Diese Dankbarkeit der Kunden, dass wir Ihnen ermöglichen können, in Würde zu Hause leben zu können - das ist die Erfüllung für mich nach Feierabend und der Grund, warum ich von klein auf Pflegerin werden wollte. Plus: Ich darf als Leiterin meine Erfahrungen an meine Kolleginnen weitergeben.“ Sie ist froh über ihren Mut zum Wechsel.

Chef in Bösdorf: "Jette ist ein 'Rundum-Sorglos-Paket'"

zwei Frauen sitzen an einem Tisch und schauen auf den Bildschirme ihrer Tablets. © NDR Foto: NDR
Jette Petersen ist glücklich bei ihrem neuen Arbeitgeber. Sie darf sich jetzt Pflegedienstleiterin nennen.

Sie fährt den Pflegedienstwagen auf den ehemaligen Hof in Bösdorf, wo ihr Arbeitgeber seinen Sitz hat. Hinter den Backsteinmauern: Ein großes weißes Bürozimmer, LED-Bildschirme, Bilder von glücklichen alten Menschen in ihren Wohnzimmern und zwei lachende reale Gesichter, die die blonde 24-Jährige schon erwarten. "Was steht an die Woche?" Jettes Chef Said Goodarzy reibt die Hände vor dem Whiteboard und nickt ihr und ihrer Kollegin aufmunternd zu. "Ich hab' verschiedene Treffen mit Netzwerkpartnern und Servicegespräche. Das erste morgen in Malente." Die Pflegedienstleiterin schaut auf ihren Screen in die Tabelle mit lauter blauen Kästen, der Geschäftsführer setzt einen Pin auf der bunten Landkreiskarte bei Malente. Es klingelt. Eine Pflegekraft kommt herein, Jette springt auf und bringt der Kollegin neues Desinfektionszeug und Handschuhe, bevor sie wieder am großen Konferenztisch Platz nimmt und sich auf ihre Termintabelle fokussiert. "Ihre Begeisterungsfähigkeit für den Pflegeberuf, ihr unglaubliches Händchen für die Bedürfnisse unserer Kunden wie Kollegen gleichermaßen - Jette ist ein 'Rundum-Sorglos-Paket.'" Der Chef hat sie nun zusammen mit einer anderen Angestellten zur Pflegedienstleiterin befördert.

Bezahlung: weit über Mindestlohn

Jette und ihre Kollegin, die "Doppel-Spitze", koordinieren fleißig weitere Termine für die Woche. "Klar haben wir Kooperationen: Wenn es medizinisch wird, also bei Wundversorgung und Medikamentengabe, arbeiten wir mit anderen Pflegediensten zusammen. Das erfordert Zusatzqualifikationen vom Pflegepersonal", weiß die 24-Jährige. Jettes Vorgesetzter hat die medizinisch verordneten Leistungen bewusst ausgeklammert: anderer Bereich im Sozialgesetzbuch, anderes Risiko, andere Abrechnung. "Bei uns arbeiten alle 24 Pflegefachkräfte in Teilzeit oder auf Mini-Job-Basis, meist im Umkreis von maximal 15 Kilometern um den eigenen Wohnort. Und wir zahlen weit über den Mindestlohn. Ist sonst echt schwer, gutes Pflegepersonal zu finden." Der erfahrene Geschäftsmann berichtet, dass sich sein Ambulanter Pflegedienst auf Grundpflege und Betreuungsmaßnahmen fokussiert. Said Goodarzy nimmt einen Anruf entgegen. Die zweite Bewerbung heute.

Zeit ist das Kostbarste

Jette plant gerade über die Ränder ihrer Bildschirme hinweg weiter die kommende Woche, da klingelt ihr Smartphone wieder. Nach zwei Minuten hat sie alles erfahren, was sie wissen muss. "Wir machen die Servicegespräche immer bei den Menschen zu Hause, nicht am Telefon." Sie will im persönlichen Gespräch erfahren, was die alten Menschen und auch die Angehörigen brauchen. "Außerdem lasse ich mir den Moment nicht nehmen, wenn sie erfahren, dass auch Kuchenbacken oder der Friedhofsbesuch Pflegeleistungen sind und wir mindestens zwei Stunden bleiben." Sie freut sich und trägt den neuen Termin schnell ein. 50 Kunden haben sie schon. "Ich brenne dafür, dass es noch mehr werden mit unserem Konzept: sowohl Kunden als auch Personal." Denn niemand solle in der "Pflege-Mühle" zugrunde gehen, findet Jette. "Alt werden wir alle und das Kostbarste, was wir haben, ist Zeit."

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 29.03.2023 | 19:30 Uhr

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