Perspektivschulen: Mit Extra-Geld Schulschwänzern auf der Spur

Stand: 11.07.2024 20:06 Uhr

135 Schulen in schwierigen Lagen bekommen ab August zusätzliches Geld vom Land. Die Gemeinschaftsschule in Brunsbüttel ist schon länger "Perspektivschule" und bezahlt mit den Mitteln zwei Kräfte, die Fehlzeiten bei Schülern nachgehen. Ihr Beispiel zeigt die Möglichkeiten des Programms - und die Grenzen.

von Marian Schäfer

Es ist 9 Uhr, als Sandra Savasogen auf ihrer dritten "Morgenrunde" ist. Die 49-Jährige ist Schulsozialarbeiterin an der Schleusen-Gemeinschaftsschule in Brunsbüttel und kümmert sich um die Fehlzeiten von Schulkindern.

Fehlzeiten erfassen und dokumentieren

Eine Frau blickt in die Kamera © NDR Foto: Marian Schäfer
Kümmert sich um fehlende Schüler: Sozialarbeiterin Sandra Savasogen.

Morgens geht sie durch alle Klassen und bekommt Zettel von den Lehrerinnen und Lehrern, auf denen fehlende Kinder vermerkt sind. Auch Verspätungen werden minutengenau notiert - und am Ende von Sandra Savasogen und ihrem Kollegen, Jan-Thomas Trankalis, erfasst und ausgewertet. "So können wir Muster erkennen und frühzeitig reagieren", sagt Trankalis.

Fehlzeiten erfassen, dokumentieren - und schnell reagieren. Klingt banal, ist es aber nicht: Laut Experten, die sich mit dem sogenannten "Schulabsentismus" beschäftigen, bleiben sogar unentschuldigte Fehlzeiten oftmals ohne Reaktion - weil sie gar nicht bemerkt werden.

Fernbleiben oft der erste Schritt Richtung Schulabbruch

Ein Mann blickt in die Kamera © NDR Foto: Marian Schäfer
Sozialarbeiter mit Jan-Thomas Trankalis hält Ausschau nach Mustern bei abwesenden Schülern.

Von Fällen, in denen Eltern ihre Kinder ohne legitimen Grund entschuldigen etwa, weil sie in Scheidung leben und ein schlechtes Gewissen haben, oder Schule für unnötig halten, ganz zu schweigen. Auch Kinder, die sich nur vor bestimmten Stunden abseilen, weil sie vielleicht Probleme mit dem Lehrer oder der Lehrerin haben, fallen schnell durchs Raster.

Dabei können die Folgen fatal sein: Kinder und Jugendliche, die später die Schule abbrechen - in Schleswig-Holstein knapp acht Prozent - fallen nicht selten früh durch Fernbleiben auf.

Lehrern fehlt Zeit, um auf Fehlzeiten schnell zu reagieren

Doch wenn es an der Schule keine Extra-Kräfte für das Problem gibt, sind die Lehrer verantwortlich. "Und die kommen neben dem Unterricht und ihren anderen Verpflichtungen schon kaum dazu, täglich ihre eigene Abwesenheitsliste mit dem Sekretariat abzugleichen", sagt Kirsten Werner, die stellvertretende Schulleiterin der Schleusen-Gemeinschaftsschule.

Vor zwei Jahren richtete die Schule deshalb eine Stelle ein, die sich Savasogen und Trankalis teilen. Die belassen es nicht nur beim Erheben und Auswerten von Daten, sondern sorgen auch für eine umgehende Reaktion: Bei unentschuldigten oder unklaren Fehlzeiten werden Familien gleich angerufen. Sie bieten Gespräche an, Hilfe.

Geld für Schulsozialarbeiter über Perspektivschulprogramm

Das Geld für die Stelle kommt aus dem sogenannten Perspektivschulprogramm, das ab August fortgeführt und ausgeweitet wird - auf dann 135 statt bisher 63 Einrichtungen. Das Förderprogramm soll Schulen in schwierigen Lagen, auch Brennpunktschulen genannt, die Möglichkeit geben, ein Stück weit selbständig eigene Probleme anzugehen, nach dem Motto: Ungleiches ungleich behandeln.

"Mit dem Programm soll der Bildungserfolg von der Herkunft entkoppelt und Teilnahmechancen erhöht werden", sagte Bildungsministerin Karin Prien (CDU) bei der Auftaktveranstaltung des neuen Perspektiv-Programms am Montag. "Die Kinder kommen mit einem ganzen Paket an Bedürfnissen, die man nicht mit Bildung lösen kann. Das braucht viel Unterstützung im sozialen und emotionalen Bereich", so Prien.

Zum Beispiel können sie in multiprofessionelle Teams investieren, also je nach Bedarf etwa Erzieher, Logopäden oder andere Kräfte einstellen. Die Schleusen-Gemeinschaftsschule nahm sich eben besonders ihrem "Absentismus"-Problem an, das der Schulleitung vor allem nach Corona auffiel.

Im Schnitt drei Schulschwänzer pro Klasse

Wie groß es ist, fassten dann Jan-Thomas Trankalis und Sandra Savasogen nach und nach in Zahlen: Es gibt mehr als 50 kritische Fernbleiber - bei insgesamt 400 Schülerinnen und Schülern. Im Schnitt sind das drei pro Klasse. "Die Fallzahl nimmt tendenziell zu, was aber nicht unbedingt daran liegt, dass es tatsächlich mehr Fälle werden, sondern wir einfach immer mehr entdecken", sagt Schoolworker Trankalis.

Das Beispiel zeigt, warum das Perspektivschulprogramm vielfach gelobt - und zur Vorlage für das "Startchancenprogramm in ganz Deutschland wurde. Auch der Schulleitungsverband Schleswig-Holstein und der Landesverband der Gewerkschaft Erziehung und Wissenschaft (GEW) sehen das Programm positiv - üben gleichzeitig aber auch Kritik.

Lob und Kritik von Schulleitungsverband und GEW

Für Bärbel Blieske vom Schulleitungsverband sollte das Bildungssystem ganz unabhängig von Förderprogrammen genügend Mittel für Schulen bereithalten, um auf Probleme reagieren zu können. "Es wird sicherlich auch noch eine 136. oder 137. Schule geben, die diese Unterstützung bräuchte", so Blieske.

Sie bemängelt ebenso wie Kerstin Quellmann von der GEW eine fehlende "Verstetigung": "Für Strukturen, die gut funktionieren, müssen Mittel dauerhaft im allgemeinen Bildungshaushalt zur Verfügung stehen", sagt Quellmann.

Förderprogramme wenig nachhaltig?

Thilo Kleickmann vom Institut für Pädagogik der Uni Kiel kann die Kritik grundsätzlich nachvollziehen: "Unser Bildungshaushalt ist einfach kleiner als in vielen anderen Ländern - und jedes Prozent mehr würde große Mittel freisetzen", sagt der Professor für Schulpädagogik.

Auch habe es gerade im Bildungsbereich in der Vergangenheit durchaus eine Art "Projektitis" gegeben: "Regierungen haben immer gerne ein eigenes, neues Programm", so Kleickmann. "Allerdings ändert sich das aktuell und Nachhaltigkeit wird mehr und mehr als Thema erkannt."

Perspektivprogramm mit langer Laufzeit

Einen Hinweis darauf findet Kleickmann auch beim neuen Perspektivprogramm: "Es ist auf zehn Jahre angelegt, und das ist sehr positiv, weil Schulen eine langfristige Perspektive brauchen - gerade, wenn sie neue Strukturen schaffen und Personal dafür halten müssen."

So wie in Brunsbüttel. Dort will Schulleiterin Kirsten Werner an ihren Schoolworkern festhalten. Die Verträge von Jan-Thomas Trankalis und Sandra Savasogen laufen mit dem alten Perspektivprogramm aus - zum 31. Juli. Dass die Schule ihnen neue geben kann, steht erst seit Anfang der Woche fest.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 11.07.2024 | 19:30 Uhr

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