Nordkirche spricht in Travemünde über Missbrauchsfälle
Die "ForuM-Studie" hat für Entsetzen in Deutschland gesorgt. Forschende hatten mehrere Tausend Fälle von sexuellem Missbrauch in der evangelischen Kirche offengelegt. Die Nordkirche will in Travemünde bis Freitag über Konsequenzen beraten.
Es sind Zahlen, die die evangelische Kirche in Deutschland aufgerüttelt haben. Ende Januar hatten unabhängige Forschende die Ergebnisse einer mehrere hundert Seiten langen Studie veröffentlicht. In Disziplinarakten der evangelischen Kirche und der Diakonie haben sie 2.225 Betroffene sexualisierter Gewalt entdeckt. Mutmaßlich verantwortlich dafür: 1.259 Täter, etwa die Hälfte davon Pastoren. Der Leiter der Studie, Martin Wazlawik, sprach von der "Spitze des Eisbergs". Denn Personalakten konnten die Forschenden nicht auswerten. Nun beginnt deutschlandweit die Aufarbeitung. Auch bei der Nordkirche.
Synode beginnt mit Schuldeingeständnis
Deshalb begann schon der Gottesdienst in der Travemünder St. Lorenzkirche zum Auftakt der Synode mit einem Schuldeingeständnis. "Wir sind keine sichere Kirche", sagten Präses Ulrike Hillmann und die Bischöfin im Sprengel Schleswig und Holstein, Nora Steen. Steen betonte, man sei nicht aufmerksam genug gewesen. Es sei nicht gelungen, Betroffene vor Missbrauch zu schützen. "Trotz aller Maßnahmen. Trotz aller, die sich bemüht haben. Wir haben Täter geschützt, in dem wir die Institution bewahren wollten", so Steen. "Wir haben nicht gehandelt, wenn wir auch nur eine leise Ahnung hatten, dass da etwas sein könnte." Dieses Bekenntnis zur Schuld stand aus ihrer Sicht außer Frage. Man wolle das nicht verschweigen, sondern bewusst weiter ansprechen und aufarbeiten.
Präses: "Bin wütend auf die Kerle"
Präses Ulrike Hillmann nannte die in der Studie geschilderte sexuelle Gewalt furchtbar. Nicht minder erschreckend seien die systematischen Bedingungen und Zustände in der evangelischen Kirche, die diese Gewalt möglich gemacht und vertuscht hätten. "Ich bin wütend auf die Kerle, die in unserer Kirche Frauen, Kindern, jungen Männern Leid zugefügt haben, deren Lebenswege zerstört haben", sagte Hillmann. "Und ich bin zugleich zutiefst beschämt, dass es bei uns so möglich war." Hillmann kündigte an, dass die Nordkirche sich die Strukturen anschauen werde. Betroffene sind aufgerufen, sich zu melden. Eine sofortige Lösung gebe es aber nicht, so Hillmann.
Sie sprach auch die Jahreslosung an. Der Gottesdienst steht unter dem Motto: "Alles, was ihr tut, geschehe in Liebe." Hillmann räumte ein: "Die Jahreslosung scheint als eine Zumutung angesichts dessen. Steht es uns noch zu, von Gottes Liebe zu reden?" Bischöfin Nora Steen fand die Antwort: "Wir müssen es sogar. Was wären wir ohne die Liebe Gottes, die für uns durch den Tod gegangen ist?"
Kirchenparlament berät über Umgang mit sexueller Gewalt
Die 156 Mitglieder des Leitungsgremiums der Nordkirche wollen noch bis Freitag bei der eigentlichen Synode unter anderem über die gerade bekannt gewordenen Missbrauchsfälle sprechen. Die Synodale Annabell Pescher hat eine Anfrage an die Kirchenleitung gestellt und möchte unter anderem wissen, wie die Nordkirche auf die "identifizierten Handlungsbedarfe und Herausforderungen" reagieren will und inwiefern Betroffene und unabhängige Stellen eingebunden werden.
Die Hamburger Bischöfin Kirsten Fehrs hatte bereits in einer Stellungnahme mit der Diakonie zugesichert, einen Maßnahmenplan zu entwickeln. Bei der weiteren Aufarbeitung sexualisierter Gewalt wollen EKD und Diakonie einheitlich zusammenarbeiten - sie versprachen Transparenz.
Generalstaatsanwaltschaft Schleswig sichtet Kirchenakten
Eines der Transparenz-Versprechen hat die Nordkirche inzwischen eingelöst. Sie hat der Generalstaatsanwaltschaft in Schleswig eine Reihe möglicherweise heikler Kirchenakten übergeben. Das bestätigte die Leitende Oberstaatsanwältin, Wiebke Hoffelner, NDR Schleswig-Holstein. Die Akten seien vor wenigen Tagen eingegangen und sollen nun gesichtet werden. Sollten sich Anhaltspunkte für strafrechtlich relevantes Verhalten ergeben, würden die Akten an die örtlichen Staatsanwaltschaften gegeben, erklärte Hoffelner. Durch die Veröffentlichung der "ForuM-Studie" waren auch Missbrauchsverdachtsfälle in Schleswig-Holstein bekannt geworden. Dabei geht es laut Nordkirche offenbar um 58 Beschuldigte, alle männlich, 33 davon seien Pastoren. Noch ist allerdings unklar, ob es Straftaten gegeben hat.
Weitere Themen der Tagung: Haushalt und Entwidmung von Kirchen
Bei der zweitägigen Veranstaltung in Lübeck-Travemünde will die Synode auch den ersten Doppelhaushalt, also einen Zweijahreshaushalt der Nordkirche beschließen. Die evangelische Kirche im Norden rechnet für das Jahr 2024 mit Gesamteinnahmen von fast 610 Millionen Euro - für 2025 mit rund 618 Millionen Euro. Auch ein Beschluss über die Widmung und Entwidmung von Kirchen steht auf der Tagesordnung. Wie Kirchen genutzt werden, soll künftig flexibler ausgehandelt werden können.
Hinweis der Redaktion: In einer früheren Version hatten wir geschrieben, dass Landesbischöfin Kühnbaum-Schmidt beim Gottesdienst gesprochen hatte. Das ist nicht korrekt. Wir haben den Absatz korrigiert.