Missbrauchs-Studie: Betroffene kritisieren Kirche
Eine neue Studie zeigt, dass das Ausmaß von sexualisierter Gewalt auch in der evangelischen Kirche groß ist. Für viele Betroffene ist die Studie ein wichtiger Schritt, aber sie üben auch Kritik.
"Das meiste davon kann doch wirklich niemand verstehen, der nicht in der Wissenschaft ist", sagt Manuela Nicklas-Beck zu ihrem Kollegen Franz Wagle. Der nickt, und schüttelt resigniert den Kopf. Sie sprechen über die neue Studie zu sexualisierter Gewalt in der evangelischen Kirche und Diakonie – und über Bandwurm-Sätze wie diesen: "Im Material finden sich Hinweise darauf, dass der Umgang mit Betroffenen, die in einer Distanz zur evangelischen Kirche verortet werden, für die evangelische Kirche herausfordernd zu sein scheint, sodass die Kirchenvertreter: innen implizit die Nähe der Institution zur Voraussetzung von Betroffenenpartizipation machen".
Studie sorgt für Verwirrung
Manuela Nicklas-Beck und Franz Wagle waren beide selbst als Kinder und Jugendliche in diakonischen Einrichtungen und vertreten seit vielen Jahren in verschiedenen Vereinen Betroffene von sexualisierter Gewalt. Nicklas-Beck ist zum Beispiel in der Betroffenenvertretung der Evangelische Kirche in Deutschland (EKD). An der Kieler Förde haben sich die beiden verabredet, um über ihre Erfahrungen nach Veröffentlichung der Studie zu sprechen. Bei beiden stand das Telefon besonders in den ersten Tagen danach kaum still. "Die Betroffenen sind verwirrt, weil sie die Studie nicht verstehen und auch nicht verstehen, was sie für sie bedeutet. Das macht sie wütend und zugleich ratlos", beschreibt Nicklas-Beck ihre Erfahrungen. Die evangelische Kirche hat auf diese Kritik bereits reagiert. Sie will die Studie in leichte Sprache übersetzen. Ein Veröffentlichungsdatum gibt es dafür noch nicht.
"Kirche und Diakonie müssen jetzt handeln"
Manuela Nicklas-Beck und Franz Wagle haben Kontakt zu Wissenschaftlerinnen und Wissenschaftlern aufgenommen, die ihnen beim Verständnis der Studie helfen. Sie versuchen so, möglichst viele Fragen der Betroffenen schon jetzt zu beantworten. Doch das, was die meisten sich von der evangelischen Kirche und Diakonie wünschen, könne die Studie ohnehin nicht leisten, sagt Franz Wagle: "Die Studie zeigt zwar endlich, dass Missbrauchsfälle auch in der evangelischen Kirche keine Einzelfälle sind. Aber sie enthält nur grobe Handlungsempfehlungen. Uns geht es darum, dass die evangelische Kirche und Diakonie endlich ins Handeln kommen müssen und da ist viel zu lange zu wenig passiert."
Betroffene arbeiten an Maßnahmenplan mit
Die Kritik der Betroffenen nehme man ernst, heißt es von Nordkirche und Diakonie. Landespastor Heiko Naß sagt, dass die Diakonie ihre Strukturen und Präventionspläne nach der Studie noch einmal genau überprüfe. Die evangelische Kirche will außerdem gemeinsam mit Betroffenen einen konkreten Maßnahmenplan entwickeln. Nora Steen ist Bischöfin im Sprengel Schleswig und Holstein. Sie berichtet, dass sie schon mit Betroffenen im Austausch und jederzeit für neue Gespräche offen sei. "Ich glaube, dass Allerwichtigste ist, dass die Betroffenen merken, dass dieses Angebot ernst gemeint ist und dass wir als Kirche nicht mehr wie in der Vergangenheit über die Köpfe von Betroffenen hinweg entscheiden, wie Aufarbeitung und Prävention aussehen".
Staatsanwaltschaft prüft Ermittlungen
Dass Kirche und Diakonie Betroffene in der Vergangenheit zu wenig unterstützt haben, ist ein zentrales Ergebnis der sogenannten FoRuM-Studie. Außerdem nennt das unabhängige Forschungsteam zum ersten Mal konkrete Zahlen. Die Studie identifiziert 2225 Betroffene und 1259 Täter, wobei die Forschenden dabei nur von der "Spitze des Eisbergs" ausgehen.
Die Nordkirche hat den Forschenden 58 Falldokumente zu Beschuldigten übermittelt, in 33 Fällen waren die Beschuldigten Pastoren. Nur in 14 dieser 58 Fällen ist in der Vergangenheit aber auch Strafanzeige erstattet worden. Das hat jetzt auch die Generalstaatsanwaltschaft in Schleswig-Holstein auf den Plan gerufen. Sie prüft derzeit, ob Ermittlungen eingeleitet werden müssen. Die Fälle seien bekannt und bearbeitet, sagt Bischöfin Nora Steen. Die Kirche begrüße dennoch jede erneute Prüfung durch die Staatsanwaltschaft, weil alles gut sei, was helfe, die Dinge transparent und neutral aufzuarbeiten, so Steen.
Betroffene wollen genau hinschauen
Franz Wagle und Manuela Elsa-Beck sind der gleichen Meinung. Politik und Strafverfolgungsbehörden zu involvieren, sei unumgänglich – auch, um Strukturen in der Zukunft dauerhaft zu ändern. "Wir werden ganz genau hinschauen, was jetzt passiert", versprechen die beiden, während sie sich für heute voneinander verabschieden.