Leben in der Demenz-WG: Keine Taktung, viel Gemeinschaft

Stand: 03.06.2024 05:00 Uhr

Die meisten, die hier wohnen, wissen nicht mehr, wo oder warum sie hier sind. Die Demenz-WG Hof Hammer - das sind zwölf Menschen, die von Pflegekräften betreut werden. Für sie ist die WG zu ihrem Zuhause geworden.

von Sofia Tchernomordik

"Was ist denn hier alles los?", Werner Gaschk greift nach einem Brötchen. Die Frühstückstafel in der WG haben die Pfleger reich gedeckt. Kirschmarmelade und Honig, Käse- und Wurstaufschnitt, dazu volle Brotkörbe. "Da sitzt jemand anderes, du sitzt hier", sagt seine Mitbewohnerin Karin Lange. "Ich sitze jetzt da?", Gaschk schaut auf den leeren Platz neben ihm. Er ist unsicher und zögert. "Ja, so machen wir es doch jeden Tag. Ich sitze immer da", sie zeigt auf den Platz, den Gaschk für sich eingenommen hatte, "und Sie sitzen hier. Da steht nämlich auch Ihr Name. Gucken Sie mal: Werner." Plötzlich leuchtet Werners Gesicht auf "Stimmt!".

Eigenständiges Wohnen mit Anleitung

Karin Lange war schon früh wach. Ihre Demenz hält sie in dauerhafter Bewegung. Mehrmals am Tag muss sie spazieren. Wenn sie nicht rausgeht, dann zieht sie ungeduldig Kreise in der geräumigen Wohnküche. Die Haustür der Wohngemeinschaft ist immer geöffnet. Sobald jemand rein- oder rausgeht, ertönt eine Klingel. Mit den Angehörigen ist jeweils vereinbart, wer für wie lange spazieren darf, bevor sie informiert werden müssen. Über GPS würden die Pflegekräfte dann den Vermissten aufsuchen. Weil Frau Lange noch sehr selbständig ist, wäre das erst nach einigen Stunden der Fall.

Wann sie aufstehen und frühstücken, entscheiden die Bewohner selbst

In der Demenz-WG gibt es keine festen Zeiten, wann die Mieterinnen und Mieter wach sein müssen. "Das Frühstück beginnt bei uns um acht und ist dann Open-End, bis der letzte gefrühstückt hat. Auch wenn er um 11 Uhr frühstücken will, soll er dann frühstücken", erklärt Pfleger Marco Bergmann. Das ermöglicht der Betreuungsschlüssel in der Demenz-WG. Morgens sind drei Pflegekräfte da, am Nachmittag zwei und nachts eine, dazu kommen über den Tag verteilt nach Bedarf Physiotherapeuten, Krankenpfleger und oder auch Personal für die Hauswirtschaft. Doch die WG könnte nicht funktionieren ohne die Hilfe der Angehörigen, heißt es vom Träger der Diakonie Altholstein. "Es wurde neulich sehr warm und damit wir draußen sitzen konnten, habe ich an alle Angehörigen eine Mail geschrieben und gefragt, wer Sonnensegel für den Innenhof besorgen und anbringen könnte", erinnert sich Pflegerin Daniela Fix.

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Eine ältere Frau geht auf einen Stock gestützt einen Weg entlang. © picture alliance/photothek Foto: Thomas Trutschel

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"Kein Tag gleicht dem anderen"

Sie arbeitet seit mehr als zwanzig Jahren in der Pflege und besonders gern in der WG, obwohl Demenz eine schonungslose Krankheit ist. Über die Zeit verändert sie jeden einzelnen, der hier einzieht. Macht schnell reizbar oder launisch. Für solche Fälle studiert Fix direkt zu Beginn die Biografie der Bewohner: "Kein Tag gleicht dem anderen", sagt sie, "Wenn ich weiß, der eine hat früher immer gern im Garten gearbeitet, dann spreche ich ihn darauf an".

Einfach mitmachen in der Gedankenwelt der Demenz-Erkrankten

Eine Demenz-Pflegerin sitzt an einem Tisch mit einer älteren Dame. © NDR
Pflegerin Daniela Fix versucht immer einen Zugang zu den Menschen hier zu finden.

"Wie war das damals?" Über diese Frage und mit viel Geduld würden sich die Mieter und Mieterinnen beruhigen und man könne wieder einen Zugang zu ihnen finden, sagt sie. "Du musst versuchen, dich in sie hineinzuversetzen. Das ist schwierig, weil du nicht weißt, was in ihren Köpfen vorgeht, manchmal kannst du es auch nicht nachvollziehen, aber du musst mitgehen." Wenn Werner von seiner Frau erzählt und davon, wie er zu Hause lebt, geht Fix darauf ein. Wenn eine Mieterin von ihrer Arbeit spricht, die sie noch regelmäßig aufsucht, unterbricht sie nicht, obwohl kein Wort stimmt. Sie macht einfach mit.

Lange Wartezeit für einen Platz in einer Demenz-WG

In Schleswig-Holstein gibt es mehr als 40 Demenz-WGs. Die Wartezeiten betragen im Schnitt bis zu einem Jahr. Je nach Kreis und Ort stehen unterschiedlich viele Menschen auf der Warteliste, so sind es in einer Einrichtung in Henstedt-Ulzburg 20 Menschen, in Trittau 300. Der Bedarf ist da: In Schleswig-Holstein sind nach Schätzungen des Kompetenzzentrums Demenz 68.000 Menschen von Demenz betroffen und ihre Zahl steigt. Demenz ist allerdings nicht meldepflichtig und auch unterschiedlich stark ausgeprägt. Einige können auch über Jahrzehnte mit der Erkrankung leben.

Kosten höher als im Pflegeheim

Um in einer WG aufgenommen zu werden, müssen Angehörige Fragebögen ausfüllen und sich persönlich vorstellen. Es geht auch um die Frage, ob der Demenz-Patient und die Demenz-Patientin zur Wohngemeinschaft passt. Wenn sie durch die Erkrankung beispielsweise bettlägerig geworden sind oder schwere körperliche Defizite aufweisen, wird in den meisten Fällen eine Unterbringung in einer WG ausgeschlossen, da eine entsprechende Hilfe besser in einem Krankenhaus gewährleistet werden kann. Und: Gute Pflege kostet. Eine Demenz-WG sei mit dem Mercedes unter den Pflegeeinrichtungen zu vergleichen, erzählt ein Träger. Die Kosten betragen bis zu 1.000 Euro monatlich mehr als in einem Heim. Je nach der persönlichen Situation der Betroffenen können Kosten teilweise beispielsweise durch Pflegepauschalen oder staatliche Zuschüsse übernommen werden.

Den Widrigkeiten zum Trotz Ressourcen nutzen

Zwei ältere Damen in einem Demenz-Heim stoßen miteinander an. © NDR
In der Demenz-WG verbringen sie viel Zeit gemeinsam. Beim Kochen, Spielen oder Klönen.

"So was habe ich noch nie gemacht. So etwas brauchte ich zu Hause nie!", Werner Gaschk bestreicht eine Brothälfte etwas unbeholfen mit Butter. "Was nun?", er dreht sich um zu Pfleger Marco Bergmann. "Jetzt klappst du die Brothälften zusammen und schneidest sie in der Mitte durch!", erklärt der. Gaschk tut widerwillig, wie ihm aufgetragen, legt dann zügig das Messer beiseite. Er soll heute für die gesamte WG Brote schmieren. "Mehr nicht!", triumphiert er. Doch Bergmann bleibt hartnäckig. Über Minuten diskutiert er mit Gaschk, wer nun für die Mahlzeit zuständig ist, bis Gaschk nachgibt. Ziel sei, die Selbstständigkeit der Mieter zu erhalten und sie mit in den Alltag einzubeziehen. Einfach rumsitzen, während die Damen der WG am Tisch Karotten und Pastinaken für das Abendessen schnippeln - das geht ja auch nicht.

"Wenn wir spazieren wollen, dann gehen wir spazieren"

In einem Heim wäre es aus Hygienegründen undenkbar gewesen, dass die Bewohner beim Kochen helfen. Doch es ist wichtig, denn Demenz lässt oft den Geschmackssinn abstumpfen. Und macht antriebslos. Schnippeln steigert den Appetit. Karin Lange ist zurück und deckt den Tisch. Für die Nachmittagsschicht kommt Pfleger Marc Grundke: "Wenn wir Lust haben, spazieren zu gehen, gehen wir spazieren. Wenn wir noch einen Kaffee trinken wollen, dann trinken wir noch einen Kaffee. Wenn wir noch rumbrummen wollen, brummen wir rum", er dreht sich um zu Werner Gaschk und lacht ihn an. "Brummen wie die Bären!", freut der sich und brummt los. Schon morgen wird er sich wahrscheinlich nicht mehr daran erinnern. Denn das was gestern war, ist dann für die Menschen hier in der WG unendlich weit weg.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 03.06.2024 | 19:30 Uhr

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