Auf der Suche: Wenn Demenzkranke weglaufen

Stand: 10.04.2024 16:00 Uhr

Hunderte demente Senior*innen verschwinden jedes Jahr aus Pflegeheimen und ihren Wohnungen. Viele werden lebend gefunden, aber längst nicht alle. Manche Heimbetreiber würden gerne GPS-Tracker einsetzen - doch die Rechtslage ist schwierig.

von Philipp Hennig, Dörte Petsch und Hannes Stepputat

Offizielle Zahlen, wie viele demente Senioren jedes Jahr vermisst werden, gibt es nicht - doch man kann sich der Problematik annähern. Etwa bei einer Suchhunde-Staffel des THW in Niedersachsen. Bis zu drei Mal in der Woche werden die Freiwilligen alarmiert, um im Raum Hannover mit ihren für Suchaktionen ausgebildeten Hunden zu helfen. Das sagt die Leiterin der Hundestaffel, Sabine Klaar. Sie suchen dann überwiegend nach dementen Senioren - "auch manchmal welche, die schon mehrfach vermisst wurden und die wir schon öfter gesucht haben. Man kann sie ja nicht festhalten, wenn sie spazieren gehen wollen."

Wenn die Gehirnleistung immer weiter abnimmt

Rund 1,7 Millionen Menschen in Deutschland haben laut dem Kompetenzzentrum Demenz aus Schleswig-Holstein eine demenzielle Erkrankung. Demenz bezeichnet keine klar umrissene Krankheit, sondern eine ganze Bandbreite an Erkrankungen und Symptomen, bei denen die Gehirnleistung immer weiter abnimmt, weil Nervenzellen und Verbindungen zwischen den Zellen absterben. Auch Alzheimer gehört zu dieser Gruppe. Oft verschlechtert sich im Verlauf der Erkrankung die Orientierungsfähigkeit und das Sprach- und Urteilsvermögen der Betroffenen. Wie genau sich die Symptome äußern, ist aber hochindividuell.

Lebensgefahr für orientierungslose Patienten

Sabine Klaar, Hundestaffel THW Niedersachsen: Bis zu drei Mal in der Woche suchen die Freiwilligen nach dementen Menschen © Screenshot
Sabine Klaar, Hundestaffel THW Niedersachsen: Bis zu drei Mal in der Woche suchen die Freiwilligen nach dementen Menschen

Manche Betroffene entwickeln mit der Zeit einen Bewegungsdrang, der in eine sogenannte Hinlauf-Tendenz münden kann. Sie neigen dann dazu, aus ihrer Wohnung oder ihrem Heim wegzulaufen. Spätestens hier beginnen für Angehörige und Pflegeheime Probleme. Denn die orientierungslosen Patienten können schnell in Lebensgefahr geraten.

Mittlerweile spricht man nicht mehr von einer Weglauf-, sondern einer Hinlauf-Tendenz, weil die Betroffenen aus ihrer subjektiven Sicht nicht vor etwas weglaufen, sondern zu einem Ziel hinlaufen - etwa ihrem Zuhause. Allerdings handelt es sich dabei oft nicht um das "echte" Zuhause, sondern etwa das Elternhaus, in dem der oder die Betroffene aufgewachsen ist.

Gefunden - 15 Kilometer vom Heim entfernt

Thomas Freudenberg suchte mehrere Tage nach seiner dementen Mutter © Screenshot
Thomas Freudenberg suchte vier Tage lang nach seiner dementen Mutter, bis sie schließlich lebend gefunden wurde.

Im Mai 2023 verschwand die damals 84-jährige Helga Freudenberg aus ihrem Heim in einem Dorf nördlich von Hamburg. Vier Tage suchten Polizeihundestaffel, Hubschrauber und Freiwillige nach ihr. Schließlich fanden Feuerwehrleute sie eher zufällig an einer unübersichtlichen Stelle in einem Graben - lebend und fast 15 Kilometer von ihrem Heim entfernt. "Ich habe manchmal noch das Bild vor Augen, wie sie aus dem Graben getragen wurde, total verdreckt", sagt ihr Sohn Thomas, der damals mitgesucht hat.

"Eine pauschale Lösung gibt es nicht"

Pflegeheim-Betreiber müssen sich etwas einfallen lassen, um mit Hinlauf-Tendenzen ihrer Bewohner umzugehen. Denn einfach einsperren kann man die Menschen nicht. "Wenn wir über kognitiv veränderte Menschen sprechen, haben wir die Selbstbestimmtheit auf der einen Seite und den Schutz auf der anderen Seite", sagt Ulrike Kempchen, juristische Leiterin beim BIVA-Pflegeschutzbund, der sich als Interessenvertretung von Pflegebedürftigen versteht. "Eine einfache, pauschale Lösung gibt es leider nicht."

Zimmertür darf nicht einfach verschlossen werden

In der Praxis bedeutet das, dass auch schwer demente Patienten ohne einen Beschluss des Betreuungsgerichts nicht in ihrer Freiheit eingeschränkt werden dürfen, etwa in dem die Zimmertür verschlossen wird. Pflegekräfte, aber auch Angehörige können sich so strafbar machen.

Aus Sicht mancher Heimbetreiber könnten GPS-Tracker helfen, die Freiheit der Bewohner so weit wie möglich zu bewahren und sie gleichzeitig zu schützen, weil sie im Ernstfall schneller gefunden werden könnten. Doch auch die kleinen Ortungsgeräte greifen in die Rechte eines Patienten ein, nämlich in sein Recht auf informationelle Selbstbestimmung. Gegen eine pauschale Erlaubnis für Tracker sprächen deshalb "erhebliche verfassungsrechtliche und datenschutzrechtliche Bedenken", erklärt etwa eine Sprecherin des Sozialministeriums Schleswig-Holstein. Auch der BIVA-Pflegeschutzbund empfiehlt, sich in jedem Einzelfall mit dem Betreuungsgericht abzusprechen.

Einsatz von GPS-Trackern ist problematisch

Sabine Resch-Hoppstock, Leiterin Pflegeheim Schloss Schliestedt: Würde Tracker gerne einsetzen, um weniger stark erkrankten Bewohnern so viel Freiheit wie möglich, aber auch Sicherheit zu geben © Screenshot
Sabine Resch-Hoppstock, Leiterin Pflegeheim Schloss Schliestedt: Würde Tracker gerne einsetzen, um weniger stark erkrankten Bewohnern so viel Freiheit wie möglich, aber auch Sicherheit zu geben

Die Leiterin des Pflegeheims Schloss Schliestedt bei Braunschweig, Sabine Resch-Hoppstock, würde Tracker gerne für einige ihrer weniger stark erkrankten Bewohner einsetzen, um ihnen so viel Freiheit wie möglich zu geben, aber auch Sicherheit. Sie wünscht sich eine Änderung der gesetzlichen Vorgaben.

In ihrer Einrichtung hat man sich voll auf demente Seniorinnen und Senioren eingestellt. Etwa 70 Prozent aller Bewohner haben eine Demenz, können aber je nach Schwere noch selbstständig leben. Für schwere Fälle gibt es einen geschlossenen Bereich. Er ist vom Rest der Anlage über eine Tür mit Zahlencode getrennt, der offen aushängt: Wer noch in der Lage ist, sich diesen Code zu merken und ihn einzugeben, kann jederzeit hinaus. Schwer Demente schaffen dies aber nicht mehr, sagt Resch-Hoppstock.

Dieses Thema im Programm:

Panorama 3 | 09.04.2024 | 21:15 Uhr

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