Kolumne: Warum wir so weitermachen, als ob alles normal sei
Weil sich seit Jahren die Krisen häufen, haben wir uns langsam daran gewöhnt. Unsere Kolumnistin argumentiert, dass wir aus Selbstschutz abstumpfen. Das Ergebnis: die "Normalitätsverzerrung".
Überall, so scheint es, brennt es gerade: Krisen, Konflikte, Katastrophen - ein Dauerzustand. Ob extreme Wetterlagen, Gewalt oder Anschläge - gefühlt steht jeden Tag eine weitere Horrormeldung in den Nachrichten. Aber auch in Gesellschaft und Politik hat sich ein neues Normal eingeschlichen. Begriffe aus dem rechtsextremen Spektrum, wie Überfremdung, Lügenpresse, Volksverräter bis hin zu Remigration, werden ohne Scham genutzt und die Grenzen des Sagbaren verschoben. Und wir? Wir schütteln resigniert den Kopf und murmeln einander ein "verrückte Zeiten" zu - mehr auch nicht. Dafür gibt es einen kognitionspsychologischen Begriff: den "Normalcy Bias" oder auch: die "Normalitätsverzerrung".
Alles ist gut. Alles ist gut?
Die Normalitätsverzerrung führt laut Kognitionspsychologie dazu, dass sich viele Menschen nicht angemessen auf Katastrophen vorbereiten. Selbst im Angesicht von Bedrohungen wollen wir Normalität bewahren. Das ist gefährlich. Denn wenn wir anfangen, drohendes Unheil abzutun, nach dem Motto: "Ach, das wird sich schon irgendwie ruckeln", verkennen wir wahre Gefahr und werden schlimmstenfalls von ihr überrumpelt.
Ich glaube auch, dass solche kognitiven Verzerrungen schon in vielen historischen Kontexten eine Rolle gespielt haben. Dass zum Beispiel in Deutschland in den 1930er Jahren die brutale Verfolgung der Juden, anderer Minderheiten und politischer Gegner lange Zeit völlig falsch eingeordnet wurden.
Die Vogel-Strauß-Taktik: Ignorieren und Verdrängen
Dass also unter anderem der Normalitätsbias dazu geführt hat, dass viele in Deutschland und Europa die systematische Vernichtung von Millionen von Menschen nicht als Realität anerkannten, obwohl es immer mehr Hinweise auf das Ausmaß des Verbrechens gab. Aber auch in der Gegenwart: wir stumpfen ab. Was sich früher noch verstörend anfühlte, wird durch stetige Wiederholung irgendwann als normal empfunden.
Bei mir selbst spüre ich den Denkfehler immer dann, wenn ich - gerade mit Blick auf Regierungen weltweit, die sich gegenseitig mit Absurditäten überbieten - denke: "Ach, sollen die da mal den Karren gegen die Wand fahren, dann werden alle schon merken, wie verrückt die sind." Wie naiv, wie verblendet! Denn die "Absurditäten" betreffen uns alle. Stichwort: Globalisierung.
Normalcy Bias überlisten: Aktiv werden statt abzustumpfen
Was können wir gegen die Normalitätsverzerrung tun? Erstens: uns diesen Denkfehler bewusst machen. Zweitens: uns gegen die Normverschiebungen wehren! Statt wie ein Reh im Scheinwerferlicht, müssen wir aktiv werden. Alles tun, damit wir nicht überrumpelt werden. Das heißt auch: raus aus der Passivität! Für mich persönlich heißt das, das 'postfaktische Zeitalter', in dem wir uns scheinbar seit einigen Jahren befinden, nicht zu tolerieren.
Für mich heißt das auch, sich einzusetzen, dass Fakten und weniger gefühlte Wahrheit die Diskussionen bestimmen. So oft es mir kräftemäßig möglich ist, sich gegen die bequeme Passivität zu stemmen - und damit hoffentlich ein Vorbild zu sein für andere, die in diesen Zeiten Orientierung brauchen.
