Bunte, gemalte Hände greifen nach einander © IMAGO / Ikon Images

Kolumne: Gemeinsam weniger einsam

Stand: 11.11.2023 06:00 Uhr

Die Rekordsturmflut an der Ostseeküste hat viele Leben durcheinander gewirbelt. Doch in den Tagen danach zeigte sich: Inmitten von Tragödien erstrahlt Hoffnung und menschliche Verbundenheit, was unserer Kolumnistin Mut macht.

von Stella Kennedy

An dem Montag, dem dritten Tag nachdem die Ostsee-Sturmflut in den Abend- und Nachtstunden des 20. und 21. Oktober ihr Unheil angerichtet hatte, war ich in Arnis (Kreis Schleswig-Flensburg). Natürlich fiel mir die Zerstörung, das Wasser, der Schutt vor den Häusern auf. Im Gespräch mit den Bewohnern allerdings, die Schubkarren schiebend in Gummistiefeln an mir vorbeihasteten, bemerkte ich etwas anderes: Alle waren sie vereint, in dem gemeinsamen Leid, was ihrer kleinen Stadt widerfahren war, aber auch in dem Ziel: Arnis wieder aufzubauen. Gerade als ich ein Interview führte, schrie es aus einem Haus: "Wer will, kriegt hier heißen Kaffee und Kuchen!"

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NDR Reporterin Stella Kennedy. © NDR Foto: Daniela Vagt

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Zusammenhalt nach Katastrophen: Solidarität in der Krise

Dieses Phänomen von menschlicher Verbundenheit inmitten von Unglück ist bekannt. Bei der Recherche für diesen Text fand ich Zitate von Menschen, die von vergangenen (Natur-)Katastrophen betroffen waren. Viele erinnern sich mehr an den Zusammenhalt als an die Katastrophe an sich. Ich selbst habe es auch im Kleinen erlebt: Einmal saß ich im Zug nach Berlin, der blieb auf offener Strecke stehen. Stundenlang war ich mit fünf komplett Wildfremden in einem Abteil zusammen eingepfercht.

Was für ein Horror - vorerst. Dann aber dieses unfassbar warme Gefühl, als wir die Ketten unseres Eigenbrötlertums sprengten und einer, ein Mensch, mit dem ich sonst nie ein Wort gewechselt hätte, eine solidarische Tafel Schokolade herumreichte. Wie raumgreifend unser Lachen, vereint im Hassobjekt "Deutsche Bahn". Hach!

Mir scheint, wir alle sehnen uns insgeheim, mal mehr, mal weniger, nach dieser Gemeinschaft. Nach dieser, von so viel Schichten vergrabenen Wahrheit: Wir stecken hier alle zusammen drin...

Neue Räume der Begegnung abseits von Unglücken

Also kann es doch nicht sein, dass wir Scherereien, Katastrophen und Unglücke brauchen, um zu merken: Uns allen geht's besser, wenn wir mal herauskommen aus unseren ach so autarken, unabhängigen Leben, in denen wir allein vor uns hin schuften. In schwierigen Zeiten zeigen wir beeindruckende Solidarität und bieten einander Hilfe an. Warum also nicht auch in guten Zeiten?

Vielleicht, weil uns die Orte für Gemeinschaft fehlen? Ich glaube, wir brauchen auch in dieser "normalen" Zeit zwischen den Unglücken (die gefühlt immer kürzer wird), neue Räume der Begegnung. Orte, an denen wir uns austauschen und Gemeinschaft erleben können - analog und authentisch. Orte, an denen wir unkompliziert nebeneinander und miteinander existieren können.

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Ich glaube, wir benötigen auch politische Vertreter, die das "Zusammenstehen" im Land nicht nur in Zeiten von Katastrophen und Krisen betonen, sondern generell stärker in den Fokus rücken. Denn mehr "Wir-Gefühl" und Empathie können dazu beitragen, die Abgrenzung von den vermeintlich "Anderen" zu verringern und Spaltung zu minimieren - zumindest ist das mein Eindruck.

Im Sommer, in jenem Zugabteil, existierten für ein paar Stunden keine sechs komplett unterschiedlichen Menschen; stattdessen bildete sich eine verschworene Gruppe, gemeinsam genervt und kollektiv müde. Was sie besaß? Eine Tafel Schokolade und ein gemeinsames Problem. Fürs kleine Glück vollauf genug.

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