Allein leben und nicht einsam sein - geht das?
Allein zu sein wird oft mit Einsamkeit gleichgesetzt und ist negativ besetzt. Dabei entscheiden sich viele Menschen ganz bewusst dafür, allein zu leben - und führen so ein selbstbestimmtes Leben.
Noch nie haben so viele Menschen allein gelebt wie heute. Es gibt immer mehr Single-Haushalte, vor allem in den Großstädten. Laut Bundeszentrale für politische Bildung war 1970 erst jeder vierte Haushalt (25,1 Prozent) ein Single-Haushalt. Heute sind es bereits etwa 42 Prozent, Tendenz steigend. Viele Menschen wählen diese Lebensform aus Überzeugung.
Die Gründe sind vielfältig. Der Alltag ist oft bestimmt von Stress, Terminen und Diskussionen. Erschöpfung und Müdigkeit machen sich breit. Da kann es schön sein, zu Hause nicht sprechen zu müssen. Beziehungen können langweilig werden, wenn man sich jeden Tag sieht. Natur und Umwelt werden viel klarer und deutlicher, wenn man sie allein betrachtet. Schließlich empfinden viele Menschen es als Freiheit, allein zu leben.
Zeit für sich, Ruhe und Unabhängigkeit
Die 31-jährige Michelle etwa hat mit Freunden in einer Dreier-WG gewohnt und ist in eine eigene Wohnung gezogen, weil ihr Zeit für sich und auch Ruhe fehlten. Der Freundeskreis war groß, es war immer viel los - zu viel, sagt die Hamburgerin im Rückblick. Auf Reisen, die sie allein machte, stellte sie fest, dass ihr das Alleinsein guttut: "Ich konnte mir aussuchen, wann ich allein sein möchte und wann nicht." Allein könne sie Sachen machen, ohne sie zuvor besprechen zu müssen. Sie könne etwas beschließen und sich im selben Moment umentscheiden, so wie sie möchte. "Ich muss keine Kompromisse eingehen und niemanden fragen. Ich bin unabhängig."
Mehr Qualität in Beziehungen
Das Zusammenleben in der WG empfand Michelle am Schluss nur noch als ein Nebeneinanderherleben. Jeder sei irgendwann heimgekommen, habe sich auf die Couch gesetzt und etwas im Fernsehen oder am Handy geschaut. Zudem war Michelle zunehmend unzufrieden mit dem Haushalt und nahm das den Mitbewohnern übel, was sich auch auf die Freundschaft auswirkte. Heute sehen sich die Freunde zwar nicht mehr so häufig wie zu WG-Zeiten, dafür hat ihre Freundschaft mehr Qualität.
NDR Umfrage: Ein Viertel kann sich ein Leben ohne Partner vorstellen
In einer aktuellen NDR Umfrage zum Thema Einsamkeit gaben 26 Prozent an, für ein erfülltes Leben keine partnerschaftliche Beziehung zu brauchen. Das ist das Ergebnis der NDR Plattform #NDRfragt, an der 11.000 Menschen aus Norddeutschland teilnahmen. Dafür nannten sie Gründe wie: "Ich genieße ganz einfach meine Freiheit, meine Zeit für mich allein" oder "Zu jedem Topf passt ein Deckel, aber ich bin ein Wok - brauche sehr viel Freiraum und Zeit für mich. Meine Art verträgt sich nicht mit dem Konzept einer Beziehung".
"Me-Time" und "We-Time" in der Partnerschaft
Auch in einer Partnerschaft kann es für beide wohltuend sein, sich neben der gemeinsamen Zeit "Me-Time" zu gönnen, also Zeit, die man ohne den Partner oder die Partnerin verbringt. Für manche Paare ist auch das Schlafen in getrennten Betten ein guter Weg, um ihrem Bedürfnis nach Ruhe nachzukommen. Die sogenannte Sleep Divorce kann helfen, Schlafmangel zu beheben und die Qualität der Partnerschaft zu verbessern, wie die US-amerikanische Schlafforscherin Dr. Wendy Troxel in ihrem Podcast "Deep Into Sleep" erläutert.
Auf die eigenen Bedürfnisse hören
Die 35-jährige Isabell aus Mecklenburg-Vorpommern hat schon sehr früh gemerkt, dass sie Rückzugsräume braucht. Bereits in der Kinderkrippe hat sie sich zurückgezogen und war gern allein. Lange Zeit hat sie versucht sich anzupassen. Als sie später Panikattacken bekam, begann sie, auf ihre Wünsche zu achten. "Irgendwann habe ich gemerkt, dass es mir gut tut, wenn ich auf meine Bedürfnisse höre und mir Zeit für mich selbst nehme, mich mit einem Buch beschäftige oder bei Tieren und in der Natur bin, mich bewege, Sport mache."
Ruhe in der Natur finden
Der 29-jährige Marcel aus Hannover hat auch in einer WG gewohnt und sich bewusst entschieden, nun allein zu leben. In der Natur findet er wie viele andere Menschen Ruhe und Entspannung und ist ganz bei sich. "Ich habe einen kleinen, total wilden Weg gefunden und dann dachte ich mir: Je öfter man einen Weg geht, desto fester wird er. Und dadurch habe ich überlegt: Welche sind denn die Wege, die ich in meinem Leben gerne festtreten und manifestieren möchte? Und welche sind die, die ruhig wild bleiben können, wo ich mich mehr ins Dickicht und ins Ungewisse bewegen kann?"
Etwas nur für sich haben
Marcel spielt in einer Metalband Bass. So sehr er die Gruppe schätzt, so gern spielt er für sich allein. "Das war mir immer wichtig, dass ich auch zu Hause Sachen habe, wo ich ein bisschen über mich hinauswachsen, mich motivieren und herausfordern kann und auch Sachen mache, die vielleicht nie jemand hören wird. Es ist schön, auch etwas zu haben, was ich für mich behalten kann."
Zeit für sich allein zu haben, ist ihm auch deshalb wichtig, weil er als Erzieher arbeitet und den ganzen Tag viel Trubel um sich herum hat. Er genießt es dann, sich zurückzuziehen und nicht zuhören zu müssen.
Gesunde Selbstfürsorge mit neuen Lebenskonzepten
Oft werden Menschen, die ihren Freiraum einfordern, als egoistisch angesehen. Sarah Diehl hat ein Buch zum Thema geschrieben, "Die Freiheit, allein zu sein: Eine Ermutigung". Ihr geht es darum klarzustellen, dass allein sein oder sich eigene Lebensmodelle zu suchen, nicht im Gegensatz zu Gemeinschaft stehen muss. Viele Menschen würden Gemeinschaft suchen, aber nicht in den Schablonen und Konzepten, die ihnen vorgelebt wurden, wie etwa im klassischen Familienmodell Vater, Mutter, Kind. Zudem komme es auf die richtige Dosierung von Alleinsein und Gemeinschaft an, sie sollte den eigenen Bedürfnissen entsprechen.
Sich Raum nur für sich zu nehmen, ist für sie gesunde Selbstfürsorge ein "Akt der Selbstliebe": "Ich bin mir genug und ich versuche, mein Leben nach meinen Wünschen zu gestalten und mich mit mir selbst komplett zu fühlen. Ich brauche nicht immer im Außen meine Identität, meinen Wert zu suchen."
Vereinsamung in Familien und Partnerschaften
Familie ist nicht immer ein Hort für Liebe und Gemeinschaft. Ein wichtiges und vernachlässigtes Thema für Diehl ist, wie sehr man auch in Familien und in Partnerschaften vereinsamen kann. Vor allem Frauen betrifft das, weil sie in Beschlag genommen werden durch die Bedürfnisse von Familienmitgliedern, Ehemann und Kindern. Sie verlieren sich in dieser Familienarbeit und haben wenig Freiraum für sich, um zum Beispiel auch andere Freundeskreise zu fördern.
Alleinsein ausprobieren
Diehl rät, das Alleinsein auszuprobieren und zu versuchen, Kraft daraus zu schöpfen. Für den Anfang empfiehlt sie einen Museums- oder Konzertbesuch, bei dem man in der Masse untertaucht, aber allein genießen kann. Das könne ein Weg sein, um die Qualitäten des Alleinseins ohne Unbehagen kennenzulernen.
Wer nicht allein lebt, kann dennoch Zeit allein verbringen, zum Beispiel allein verreisen, im Café sitzen, ein Buch lesen oder stundenlang spazieren gehen und die Natur wahrnehmen. Wichtig ist, es sich wirklich vorzunehmen, sonst kommt die Zeit für sich allein im Alltag unter die Räder.
Gemeinschaft neu denken
Eine Vision von Diehl ist, Gemeinschaft neu zu denken. Am Beispiel der Rolle der Frau oder Mutter bedeutet das für sie, "dass sich eben nicht immer nur die Frau selbstlos hingeben muss, um Gemeinschaft aufrechtzuerhalten, für den sozialen Kitt der Gesellschaft zu sorgen und sich um alles zu kümmern." Anstelle der klassischen Kleinfamilie sieht sie größere Verantwortungsgemeinschaften im Vorteil. Hier können sich mehr Menschen umeinander kümmern, Aufgaben teilen und so dem Einzelnen wieder etwas mehr Freiraum für sich und fürs freiwillige Alleinsein verschaffen, so die Autorin.