Kolumne: Plötzlich Mensch – Ein Blick hinter die Kulissen des Callcenters
In Zeiten von Chatbots und automatisierten E-Mails erscheint persönlicher Kundenservice per Telefon auf den ersten Blick großartig. Unsere Kolumnistin weiß aber aus Erfahrung: Der Schein trügt.
Es gibt einen Sommer, den ich nie vergessen werde. Ich war zwanzig, lebte in Berlin und hielt mich mit diversen Nebenjobs über Wasser. Zusätzlich musste ich 700 Euro zusammenkratzen, um mir für mein bald beginnendes Studium einen Laptop zu kaufen. Der Stundenlohn lag damals zwischen fünf und acht Euro. Neben dem Flyerverteilen in der Innenstadt und einem abendlichen Fitnesscenter-Job brauchte ich also etwas, das sich mehr lohnte. Ein Plakat in der U-Bahn lockte mich ins Callcenter. Von da an verbrachte ich meine Tage in einem stickigen Großraumbüro mit Headset vor einem Bildschirm – und verkaufte Telefonverträge. Es war die Hölle.
"Aufstehen, lächeln!"
Immer wieder klinkten sich meine Chefs in die Leitung ein und brüllten mich nach erfolglosen Gesprächen an. Wer die meisten "Leads", also potenzielle Kunden, nach der Schicht vorweisen konnte, erhielt Kino- oder Einkaufsgutscheine. Die Vorgesetzten patrouillierten mit Argusaugen - und Ohren - durch die Sitzreihen und riefen uns ständig zu: "Aufstehen, lächeln!" Das sollte angeblich unsere Erfolgsquote steigern. Nie wurde ich häufiger beschimpft, nie rauchte ich mehr und nie war ich abends ausgelaugter als in diesem Sommer im Callcenter.
Gut "Für Elise", schlecht für die Nerven
Trotz dieser Erfahrung gibt es heute kaum etwas, das mich wütender macht, als nach stundenlanger Warteschleife mit einem unfähigen Callcenter-Mitarbeiter verbunden zu werden. Gut, die aktuelle politische Weltlage ärgert mich mehr, aber Kundenservice-Hotlines kommen bald danach. Ein Vorfall vor ein paar Tagen macht mir aber Hoffnung: Ich wollte meinen Handyvertrag kündigen und musste dafür die "Service-Hotline" meines Anbieters anrufen. Nach 35 quälend langen Minuten in der Warteschleife (unterlegt mit einer aggressiv-machenden Version von "Für Elise") wurde ich endlich durchgestellt. Schon nach wenigen Minuten war klar: Die Frau am anderen Ende hatte keinerlei Interesse daran, meine Kündigung zu akzeptieren. Stattdessen versuchte sie, mir einen neuen Tarif aufzuschwatzen.
Mehr als eine Stimme
Aber: Statt gereizt zu reagieren, drehte ich den Spieß um und zwang mich zu Freundlichkeit. Je höflicher und herzlicher ich mit der Frau sprach, desto mehr überzeugte ich nicht nur sie, sondern auch mich selbst. Ich bedankte mich bei ihr und betonte, wie froh ich sei, dass sie mir helfe. Und plötzlich war sie mehr als nur eine Stimme. Es schien sie sehr zu überraschen, freundlich behandelt zu werden. Nach einiger Zeit fragte sie mich, ob ich an ihrer Aussprache erkannt hätte, dass sie Araberin sei. Hatte ich nicht. Neugierig fragte ich nach und sie erzählte mir mit hörbarem Stolz, dass sie in Kairo arbeite und vier Jahre lang Deutsch an der Universität gelernt habe. Tatsächlich sei sie aber noch nie in Deutschland gewesen.
Plötzlich Mensch
Nach diesem Gespräch, das übrigens mit der selbstverständlichen Kündigung meines Vertrags endete, wurde mir eines klar: Dieser Moment, in dem eine Funktion – sei es der Sachbearbeiter im Amt oder die Hotline-Agentin – plötzlich ein Mensch wird, ist tröstlich und verbindend. Ach so, und was meinen Sommer im Callcenter betrifft: Er war erfolgreich. Der Laptop brachte mich durchs Studium.