Lange verdrängt: Deportationszug ging von Bad Oldesloe aus

Stand: 26.01.2025 13:21 Uhr

Am 6. Dezember 1941 wurden 905 norddeutsche Jüdinnen und Juden von Bad Oldesloe aus nach Riga deportiert. Nun wird zum Holocaust-Gedenktag eine Ausstellung eröffnet.

von Corinna Below

Heute erinnert am Bahnhof nichts mehr daran, was am Nikolaustag des Jahres 1941 hier passiert ist. Damals war der Bahnhof Bad Oldesloe (Kreis Stormarn) ein Verkehrsknotenpunkt. Mehrere Züge waren gekommen. Aus Hamburg, Kiel und Lüneburg. Hier sind sie miteinander verkoppelt worden. In den Zügen: Jüdinnen und Juden aus ganz Norddeutschland, die ins Ghetto Riga deportiert werden sollten.

Warum weiß das niemand?

Eine Frau steht am Bahnhof von Bad Oldesloe © NDR Foto: NDR Screenshot
Ilse Wulf-Siebel war geschockt, als sie durch Zufall erfuhr, dass 1941 von diesem Bahnhof aus fast 1.000 Jüdinnen und Juden ins Ghetto Riga deportiert wurden.

Die alte Strecke Richtung Ratzeburg gibt es längst nicht mehr. Birken wachsen aus den alten Gleisen. Die Schwellen sind morsch. Ilse Wulf-Siebel läuft am Bahnsteig entlang, schaut auf diese alte Strecke und ist immer noch fassungslos. Seit 50 Jahren lebt sie in Bad Oldesloe. Und nur durch einen Zufall hat sie von der Deportation erfahren. Nie zuvor hatte das jemand thematisiert. Eines Tages aber, da bringt sie einen Mitarbeiter der Gedenkstätte Ahrensbök zum Bahnhof. Sie stehen davor und reden noch, als der sich plötzlich zum Bahnhofsgebäude umdreht und sie fragt: "Weißt du eigentlich, was hier 1941 am Oldesloer Bahnhof passiert ist?" Ilse Wulf-Siebel erinnert sich genau:"Ich frage ihn: 'Nein, das weiß ich nicht. Was war?' Und dann sagt er: 'Von Bad Oldesloe aus wurden die norddeutschen Juden nach Riga deportiert'." Das war für die heute 80-Jährige "erst einmal ein Schock, ein richtiger Schock. Und ich habe gedacht: "Wieso weiß das niemand, das ist doch irgendwo unvorstellbar. Das muss man doch wissen!" Und sie beschloss: "Davon brauche ich Informationen."

Wulf-Siebel beschloss, zu recherchieren

Eine Schwarzweiß-Aufnahme eines Zuges © NDR Foto: NDR Screenshot
Am Nikolaustag 1941 wurden am Bahnhof Bad Oldesloe mehre Züge aus Kiel, Hamburg und Lüneburg zu einem zusammengekoppelt. Im Zug: 905 Jüdinnen und Juden.

Drei Jahre lang hat Ilse Wulf-Siebel intensiv in Archiven recherchiert und so viel herausgefunden, dass sie eine kleine Ausstellung daraus konzipiert hat. Zum 80. Jahrestag der Befreiung des KZ Auschwitz baut sie diese jetzt zusammen mit den"Omas gegen Rechts - Oldesloer für Demokratie" im Foyer des Kultur- und Bildungszentrums Bad Oldesloe (KuB) auf. Die Frauen hängen Karten an die Stellwände - zu sehen sind zum Beispiel die Deportationsstrecke oder eine Deportationsverordung vom Amt Pinneberg. Es ist ein großes Gewusel im Raum. Die Gruppe war sofort von der Idee zur Ausstellung überzeugt. Ulrike Tyrell erklärt es so: "Weil wir auch sehr große Betroffenheit hatten. Obwohl historisch interessiert - hier in Oldesloe wussten wir davon nichts. Das ist ganz leise vonstatten gegangen am Nikolaustag. Alle haben ihre Stiefel ausgepackt - und am Bahnhof wurden fast 1.000 Menschen deportiert. Ich finde das furchtbar. Ist auch eine Art Wiedergutmachung, oder?"

905 Namen, 905 "Judensterne", die an sie erinnern sollen

Ein Davidstern mit der Aufschrift "Jude" © NDR Foto: NDR Screenshot
In der Fensterfront des Kultur- und Bildungszentrums in Bad Oldesloe hängen 905 sogenannte Judensterne mit den Namen, Geburtsdaten und Wohnadressen der Deportierten.

Marina Adomat schlägt ein großformatiges Gedenkbuch auf. Es besteht aus laminierten historischen Listen. "In diesem Buch sind die ganzen Namen und Adressen und Ortschaften aufgelistet, wo die deportierten Juden damals gelebt haben." 905 Menschen wurden damals deportiert. Ganze Familien und viele Kinder waren dabei. An sie erinnern jetzt 905 sogenannte Judensterne mit Namen, Geburtsdaten und letzter Wohnadresse. Die "Omas gegen Rechts" haben sie zu langen Ketten zusammengebunden und hängen sie jetzt in die Fenster des KuB, damit auch Vorbeigehende sie sehen können. Sie wollen, dass die Menschen in Bad Oldesloe neugierig werden, reinkommen und sich die Ausstellung angucken.

Schülerinnen und Schüler haben zu den Deportierten recherchiert

Mehrere Personen stehen vor einer Apotheke © NDR Foto: NDR Screenshot
Ilse Wulf-Siebel ist es besonders wichtig, Jugendliche über die Verbrechen der nationalsozialistischen Deutschen aufzuklären.

Die Geschichten hinter den 905 Namen liefern Schülerinnen und Schüler von zwei Schulen in Bad Oldesloe. Zum Beispiel eine Klasse des elften Jahrgangs der Beruflichen Schule. Bis zuletzt haben sie recherchiert. Ihre einzige Grundlage: die alten Deportationslisten. Zoe Stolte erzählt, dass das mehrere Listen waren. Sie seien nach Alphabet und nach Städten sortiert gewesen. "Dann konnten wir uns daraus jemanden aussuchen und gucken, ob wir zu dem was finden." Sie suchten online in den Unterlagen der Arolsen Archives und im Internet. Die Arolsen Archives sind nach eigenen Angaben das internationale Zentrum über NS-Verfolgung mit dem weltweit umfassendsten Archiv zu den Opfern und Überlebenden des Nationalsozialismus. Zu zehn Menschen konnten sie so viel finden, dass sie eine Kurz-Biografie schreiben konnten. Zum Beispiel zu dem Lübecker Josef Katz. Sofia Pereira berichtet, dass er vom Ghetto Riga aus weiter deportiert worden und in einigen Lagern gewesen sei. "1943 bis 1944 war er im Konzentrationslager Kaiserwald und Stutthof und dann am 8. März 1945 wurde er von der Roten Armee befreit."

Alle zehn Biografien werden am Ende Teil der Ausstellung im KuB sein. Claudia Schecker ist Lehrerin an der Beruflichen Schule Bad Oldesloe und an dem Projekt beteiligt. "Es ist einfach klasse, dass wir als Schule die Möglichkeiten haben, an diesem Projekt teilzunehmen, weil die Schüler so verstehen: Wer ist deportiert worden, wohin sind sie gegangen? Wie ist der Werdegang, die Geschichte der einzelnen Personen?"

Die Geschichte sichtbar machen

Seit einem Jahr erinnert am Bahnhof eine Gedenktafel an die Deportation. Ilse Wulf-Siebel hat dafür gesorgt. Mit den Schülerinnen und Schülern trifft sie sich hier, am Ort des Geschehens, damit sie die historische Tragweite noch besser verstehen können. Slava Grincu kommt ursprünglich aus Moldawien und ist begeistert, bei dieser Recherche dabei gewesen zu sein: "Ich fühle ehrlich Stolz. Wir können etwas Neues in der Vergangenheit untersuchen." Er sagt, das sei eben ein "Teil von unserer Geschichte und wir merken das, wir vergessen das nicht". Er wolle versuchen, das weiterzugeben, diese Geschichte an die nächste Generationen weiterzuerzählen.

Ein alter Ausweis © NDR Foto: NDR Screenshot
Ilse Wulf-Siebels Vater Karl überlebte das KZ Dachau. Seine Geschichte ist für sie Ansporn

Ihr Wissen vor allem an Jugendliche weiterzugeben, ist Ilse Wulf-Siebel auch aus ganz persönlichen Gründen wichtig. "Das bedeutet mir sehr viel, weil ich die Tochter eines ehemaligen KZ-Häftlings bin, der 1933 am 1. März bereits in Schutzhaft genommen wurde und dann ja auch nach Dachau kam." Ihr Vater Karl, ein Kommunist, kam nach einem Jahr aus der KZ-Gefangenschaft zurück, schwer gezeichnet, aber - er hatte überlebt.

Die meisten der aus Bad Oldesloe ins Ghetto Riga Deportierten überlebten nicht. So wie insgesamt sechs Millionen europäische Jüdinnen und Juden. Sie wurden erschossen, starben an Kälte, Hunger, wurden in einem Vernichtungslager vergast. Auch und vor allem in Auschwitz.

Bad Oldesloe? Auch kein Ort der Unschuld

Ein Teil des Holocaust hat hier, an diesem Bahnhof, seinen Ausgang genommen. Das ist dank Ilse Wulf-Siebel jetzt bekannt. Sie sagt es so: "Auch Bad Oldesloe war während der Nazi-Zeit kein Ort der Unschuld."

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 26.01.2025 | 19:30 Uhr

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