Inobhutnahmen: Starker Anstieg der Fälle - zu wenig Pflegefamilien

Stand: 19.09.2023 05:00 Uhr

Eine Frau aus Kiel nimmt Kinder auf, die aufgrund von Kindswohlgefährdung vom Jugendamt aus ihren Geburtsfamilien genommen werden müssen. Für sie ist es Herausforderung und Herzensangelegenheit zugleich.

von Lisa Pandelaki

Es beginnt immer mit einem Anruf. Dann muss es schnell gehen. Gewalt, sexualisierte Gewalt, Bedrohung, Vernachlässigung oder schlechte Versorgung - wenn Kinder oder Jugendliche das in ihren Geburtsfamilien erleben müssen, greift das Jugendamt ein. Und dann braucht es schnell Orte, an denen sie untergebracht werden können. Einer davon ist bei Kirsten.

Die gelernte Kinderkrankenschwester arbeitet seit neun Jahren als Bereitschaftspflegemutter für das Jugendamt Kiel. Hat sie Kapazitäten, muss sie rund um die Uhr mit einem Anruf rechnen. Dann hat sie 30 bis 45 Minuten Zeit, bevor sie mit einem Kuscheltier im Gepäck losfährt, um ein gefährdetes Kind abzuholen. Ihr Nachname und wo genau sie wohnt, darf hier nicht stehen, denn ihr Haus soll ein sicherer Ort bleiben. Elf Kindern hat sie bereits ein Zuhause auf Zeit geboten. "Es ist eine Herzensangelegenheit zu helfen, den Kindern ein Zuhause auf Zeit zu geben", sagt sie über ihr Engagement.

Bewusste Förderung im Spiel

Es ist ein sonniger Septembertag. Kirsten sitzt auf dem Boden des Spielzimmers und baut Türme mit Ella und Anton(Namen von der Redaktion geändert). Seit März sind die Geschwister im Kleinkindalter bei ihr und haben schon eine gute Bindung aufgebaut. "Mama", ruft Anton immer wieder und piekst Kirsten dabei mit dem Finger am Arm. Liebevoll nimmt Kirsten den Jungen in den Arm und knuddelt ihn. Bewusst nutzt sie das Spiel mit den Bausteinen und dem Körperkontakt, um die Kinder dort zu fördern, wo sie hinter anderen Kindern ihres Alters zurückgeblieben sind. Sie rollt die hubbeligen Klötze über die Fußsohlen der Kinder, lässt sie Körperteile benennen und stimmt Lieder an. Die Mutter der beiden hat sich selbst an das Jugendamt gewandt, weil sie mit der Versorgung überfordert war. Bis eine Pflegefamilie gefunden ist, bei der die Kleinen dauerhaft bleiben können, sind sie bei Kirsten.

Pflegefamilien dringend gesucht

30 Familien in und um Kiel stehen dem Jugendamt als Zuhause auf Zeit für in Obhut genommene Kinder zur Verfügung. Mindestens 20 Familien mehr bräuchten sie, um den Bedarf zu decken, erzählt Jochen Schepp, Abteilungsleiter des Kinder- und Jugendhilfediensts beim Jugendamt Kiel. Über 3.000 Kinder wurden in Schleswig-Holstein allein 2022 in Obhut genommen. Das sind 43 Prozent mehr als noch im Jahr davor. 2023 sind es bisher allein in Kiel mehr als ein Kind pro Tag.

"Zum einen kommen nach wie vor viele junge unbegleitete, minderjährige Geflüchtete über die gefährliche Mittelmeerroute oder auch über die Balkanroute nach Deutschland", erklärt Schepp die gestiegenen Zahlen. "Dann müssen wir, glaube ich, noch annehmen, dass wir die Nachwirkungen von Corona- und Pandemiezeit erleben." Die Belastungen und Entbehrungen der Zeit, vor allem für Familien, Kinder und Jugendliche, zeigten sich jetzt zeitlich verzögert, so Schepp.

Dabei ist die Inobhutnahme die "Ultmia Ratio", wie Schepp sagt. "Wenn Familien nicht in der Lage sind, die Gefährdung selbst abzustellen. Und wenn dann Eltern nicht bereit sind, die Hilfen, die wir zur Verfügung stellen, anzunehmen, dann sind wir auch gezwungen, im Einzelfall das Kind aus der Familie zu nehmen." Noch findet sich für jedes Kind ein Platz, ob in Familien oder einer anderen Einrichtung wie Heimen oder betreutem Wohnen. Doch die Situation ist angespannt.

"Durch und durch Familienmensch"

Davon ist bei Kirsten nichts zu spüren. Ihr Zuhause ist liebevoll und detailreich eingerichtet. Überall hängen Fotos oder stehen Blumen, im Garten ist ein kleiner Spielplatz aufgebaut. "Ich bin durch und durch Familienmensch", sagt die fröhliche Frau mit den blonden Locken über sich selbst. Mit ihren drei leiblichen Kindern habe sich ihre Familie noch nicht vollständig angefühlt, erzählt sie. Deshalb nimmt sie nach und nach vier Vollzeitpflegekinder auf - also Kinder, die dauerhaft bei ihr bleiben. Dann kommt die Trennung von ihrem Mann. "Ich wollte nach meiner Trennung für meine Kindern mehr da sein und habe mir dann überlegt, was kann ich machen, um mit Kindern weiterzuarbeiten und trotzdem für meine auch da zu sein," erinnert sich Kirsten. Die Überlegungen münden in die Bereitschaftspflege.

Neben den Kindern auf Zeit wohnen noch drei der älteren Kinder bei ihr. Die anderen sind ausgezogen, jedoch alle in der Nähe geblieben. "Ich habe ein gutes Familiensystem. Meine Kinder sind alle sehr familienverbunden. Meine großen Kinder, auch die, die schon ausgezogenen sind, sind alle viel hier, unterstützen mich", erzählt Kirsten auf die Frage, wie sie das alles schafft.

Jedes Kind hat andere Bedürfnisse

Es ist eine herausfordernde Aufgabe. Jedes Kind, das über Kirstens Türschwelle tritt, ist vorbelastet. Da ist das sechs Monate alte Baby, dessen kleiner Körper schon von Drogen abhängig ist und das bei Kirsten als erstes einen Entzug machen muss. Da sind die beiden Mädchen, die eigentlich noch gestillt werden und kein Deutsch verstehen, die von jetzt auf gleich entwöhnt werden müssen und Erklärungen nicht verstehen. Jedes einzelne Kind muss Kirsten erst mit seinen Charaktereigenschaften und Bedürfnissen kennenlernen. Doch sie ist sich der Not in der Gesellschaft bewusst. "Es gibt leider immer weniger in Inobhutnahme-Pflegefamilien, und ich finde das ganz wichtig", erzählt sie.

"Wir arbeiten mit Hochdruck an Lösungen", versichert Jochen Schepp, der beim Kinder- und Jugendhilfedienst die andere Seite des Systems kennt. Drei Punkte sind dabei essenziell: Die Reduzierung von Inobhutnahmen durch mehr und frühzeitige Hilfe direkt in den Familien. Die Gewinnung von Fachkräften, um die Fälle zu bearbeiten und Hilfe anbieten zu können. Und die Suche nach weiteren Pflegefamilien. Zusätzlich verschärft wird die aktuelle Situation außerdem von lang dauernden Gerichtsverfahren, die über die Zukunft der Kinder entscheiden. "Es sind auch gerade kleine Kinder viel zu lange in den Bereitschaftspflegefamilien, weil die familiengerichtlichen Verfahren zu lange dauern und es nicht rechtzeitig für diese kleinen Kinder zu einer Klärung kommt", sagt Schepp. Die Kinder binden sich so stark an die Pflegeeltern. Der Abschied fällt schwerer.

Ein Koffer zum Abschied

Auch für Kirsten ist der Abschied nicht immer leicht. "Ich freue mich eigentlich, wenn es eine gute Zukunft für das Kind gibt", sagt sie. "Aber wenn der Tag dann da ist, da kommt auch schon mal ein Tränchen." Für jedes Kind packt sie ein Abschiedsköfferchen mit einem Fotobuch, persönlichen Wünschen und Naschis. Wann es für Ella und Anton so weit sein wird, weiß Kirsten noch nicht. Aktuell wird eine Vollzeitpflegefamilie für sie gesucht. Und bis die gefunden ist, wird Kirsten die Geschwister in ihre Familie integrieren und ihnen so viel Gutes mit auf den Weg geben, wie sie kann.

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Dieses Thema im Programm:

Schleswig-Holstein Magazin | 20.09.2023 | 19:30 Uhr

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