Zahl der Fälle von Kindeswohlgefährdung stark gestiegen
Immer mehr Kinder in Schleswig-Holstein sind zu Hause offenbar nicht sicher, werden vernachlässigt oder misshandelt.
Eltern lassen ihr kleines Kind alleine zu Hause; die Mutter kümmert sich nicht darum, wenn ihr Sohn stundenlang auf dem Smartphone spielt; der alkoholabhängige Vater rastet regelmäßig aus, wird gewalttätig und übergriffig. Die Fälle, in denen die Jugendämter in Schleswig-Holstein Kindeswohlgefährdung festgestellt haben, sind laut Zahlen des Statistikamtes Nord in den vergangenen Jahren stark gestiegen. Der Anstieg betrug von 2019 auf 2020 insgesamt 30 Prozent. Konkret gab es 2019 insgesamt 1.527 Fälle und 2020 insgesamt 2.006 Fälle. Schaut man acht Jahre zurück, vergleicht also die Zahlen von 2012 (898 Fälle) mit 2020, beträgt der Anstieg sogar 123 Prozent. Für 2021 liegen dem Statistikamt Nord noch keine Zahlen vor.
Viele Familien benötigen Unterstützung
Insgesamt wurden die Jugendämter 2020 in 6.239 Fällen eingeschaltet, um zu überprüfen, ob eine Kindeswohlgefährdung vorlag. In den bereits erwähnten 2.006 Fällen lag sie vor, in 4.233 Fällen nicht. Trotzdem benötigten aber auch viele dieser Familien Unterstützung. In 1.950 Fällen stellten die Jugendämter Hilfebedarf fest - und begleiteten die Familien zum Beispiel mit Sozialpädagogen in ihrer Erziehung.
Corona verstärkt prekäre Lebensverhältnisse
Lidija Baumann, Leiterin des Kinderschutz-Zentrum Kiel, kann diese Entwicklung auch für ihren Ortsverband bestätigen. Sie glaubt, dass auch die Pandemie für den aktuellen Anstieg der Zahlen mitverantwortlich ist. "Corona hat prekäre Lebensverhältnisse massiv verstärkt", sagt sie. Homeoffice, Homeschooling, geschlossene Kitas und Quarantäne hätten Eltern aller Schichten an ihre Grenzen gebracht und enorm unter Stress gesetzt. Hinzu seien bei einigen auch noch finanzielle Sorgen gekommen. Diese Situation habe zum Teil dazu geführt, dass Kinder vernachlässigt worden seien.
Per Definition liegt Kindeswohlgefährdung dann vor, wenn das körperliche, geistige oder seelische Wohl des Kindes durch missbräuchliche Ausübung der elternlichen Sorge gefährdet ist - also wenn die Eltern ihr Kind zum Beispiel vernachlässigen oder psychische, physische oder sexualisierte Gewalt anwenden. Und wenn die Eltern nicht gewillt sind oder nicht in der Lage sind, diese Situation zu ändern. § 1666 Bürgerliches Gesetzbuch
"Oft entsteht ein Teufelskreis"
Eine Kindeswohlgefärdung lasse sich selten an einem einzelnen Punkt festmachen, sagt Baumann. "Es sind immer viele Faktoren. Und oft entsteht ein Teufelskreis: Stress führt zu Gewalt gegenüber Kindern, die dadurch noch unruhiger werden, was zu mehr Stress und mehr Gewalt führt." Oft gehe es bei Vernachlässigung um existentielle Fürsorge. "Das kann bedeuten, dass Eltern in der Nacht nicht aufstehen wollen, wenn ihre kleinen Kinder schreien und lieber die Tür zumachen. Bei Grundschulkindern kann es bedeuten, dass Eltern keine Lust haben, die Kinder morgens für die Schule fertigzumachen und sagen: Das sollen die alleine machen", nennt sie zwei Beispiele.
Exzessive Mediennutzung von Kindern
Seit Jahren beobachtet Baumann, dass Kinder immer mehr Medien nutzen. Auch das habe sich durch die Pandemie verstärkt. "Durch Corona sind fast alle Schranken gefallen, was Mediennutzung angeht. Zum einen wird das von Eltern als Mittel zur Entlastung genutzt. Aber auch die Schulen arbeiten ja jetzt viel mit Medien. Und dann wird es schwierig für Eltern zu kontrollieren: Googeln die Kinder jetzt etwas im Internet, weil es wichtig ist für das nächste Referat oder gucken sie sich gerade etwas an, was sie eigentlich nicht sehen sollten?", erklärt Baumann.
Wenn Baumann und ihre Kolleginnen Kinder fragen, welche Filme, Serien und Spiele sie kennen, dann werden ihnen sehr häufig Serien und Spiele genannt, die nicht altersgerecht sind. "Die allgemeine Mediennutzung ändert auf allen Ebenen etwas. Kinder sind auch immer öfter alleine damit. Da setzt sich kein Elternteil dazu und guckt mit", sagt Baumann. Eine Folge: "Wir haben seit Jahren eine starke Zunahme von kleinen Kindern mit sprachlichen Entwicklungsverzögerungen." Denn Sprache lerne man nur über aktives Sprechen, nicht über Medien.
Zu viel Druck für die Kinder
Auch bei Eltern, denen Bildung eher wichtig ist, habe die Pandemie häufig Spuren hinterlassen. "Damit ihre Kinder trotz Homeschooling in der Schule mitkommen, haben viele Eltern angefangen, Druck auf ihre Kinder auszuüben", berichtet Baumann. "Da sehen wir eine Zunahme von depressiven Erkrankungen und Angststörungen."