Immer mehr Kinder adipös: Experte vom UKSH fordert Hilfe für Familien
Die Zahl der Kinder und Jugendlichen mit krankhaftem Übergewicht ist in Schleswig-Holstein weiter gestiegen - auf 3,3 Prozent. NDR Schleswig-Holstein hat darüber mit einem Adipositas-Experten gesprochen.
Laut einer Auswertung der Barmer Ersatzkasse für den NDR sind damit ein Drittel Kinder und Jugendliche mehr von Adipositas betroffen als noch vor zehn Jahren. Bei der Diagnose werden Gewicht und Größe der Kinder im Vergleich zu ihrer Altersgruppe und ihrem Geschlecht gesetzt. Als übergewichtig gilt, wer zu den oberen zehn Prozent gehört, als adipös, also krankhaft übergewichtig, zu den oberen drei Prozent.
Dr. Ingo Menrath ist Experte für pädiatrische Endokrinologie und Diabetologie und leitet am Universitätsklinikum Schleswig-Holstein in Lübeck die Tagesklinik für Kinder- und Jugendliche mit chronischen Erkrankungen. Er erklärt, warum die langfristige Behandlung oft schwierig ist.
Herr Menrath, welche Kinder kommen zu Ihnen?
Ingo Menrath: Da wir eine Universitätsklinik sind, kommen schon eher die komplizierteren Fälle zu uns. Beispielsweise Kinder, die mit 12 oder 14 Jahren 140 Kilo wiegen und schon unter Folgeerkrankungen wie etwa Bluthochdruck, Diabetes, Gelenk- und psychischen Problemen leiden.
Mit welcher Hoffnung kommen diese Familien zu Ihnen?
Menrath: Viele wünschen sich, dass wir eine organische Ursache entdecken, die sich einfach behandeln lässt. Zum Beispiel eine Schilddrüsenunterfunktion, bei der man Hormone gibt und die Kinder dann in der Regel abnehmen. Das sind aber absolute Einzelfälle. Meistens ist das starke Übergewicht Ergebnis eines Zusammenspiels von genetischer Veranlagung sowie Umwelt- und Lebensbedingungen - und entsprechend schwer zu behandeln.
In einer Auswertung für den NDR hat die Barmer festgestellt, dass in Schleswig-Holstein der Anteil versicherter Kinder und Jugendlicher mit krankhaftem Übergewicht weiter gestiegen ist - auf 3,3 Prozent im Jahr 2022. Das ist ein Plus von fast 30 Prozent im Vergleich zu 2012. Wie nehmen Sie die Entwicklung war?
Menrath: Die Situation ist dramatisch - insgesamt sind mittlerweile knapp 16 Prozent der Kinder und Jugendlichen mindestens übergewichtig. Wir haben gut 20 Jahre mit teils stark steigenden Zahlen hinter uns, die insbesondere für die niedergelassenen Kollegen eine große Herausforderung sind. Es gibt Leitlinien, wie übergewichtige Kinder zu behandeln sind, aber gleichzeitig fehlen Versorgungsstrukturen.
Was ist so aufwendig an der Versorgung stark übergewichtiger Kinder?
Menrath: Es geht insbesondere darum, den Lebensstil der Kinder und oftmals der gesamten Familie zu verändern. Wir haben uns - das ist das Positive - in den vergangenen Jahren viele Gedanken dazu gemacht und gute Ansätze entwickelt - zum Beispiel spezielle, langfristig angelegte Programme zu Ernährung, Psychosozialem und Sport. Gerade im ländlichen Raum fehlen diese aber oft, und selbst wenn es sie gibt, ist es mitunter schwierig, die Familien in die Versorgung zu bekommen.
Warum?
Menrath: Vielen fällt schwer, die Programme in ihren Alltag zu integrieren, weil es neben der Adipositas noch andere Herausforderungen in der Familie gibt. Häufig gibt es auch Probleme mit der Finanzierung - und der Motivation. Da muss jemand dranbleiben, Kontakt halten. Am Ende bringen wir derzeit von zehn Kindern, die eine leitliniengerechte Versorgung bräuchten, nur ein einziges entsprechend unter.
Was bräuchte es ihrer Meinung nach?
Menrath: Ich glaube, dass wir bis zu fünf hochspezialisierte Zentren in Schleswig-Holstein benötigen, die Sprechstunden für Kinder und Jugendliche anbieten und unter anderem mit niedergelassenen Kinderärzten zusammenarbeiten. Wir bräuchten mehr ambulante Strukturen, die wohnortnah spezielle Programme für Kinder mit Übergewicht und Adipositas anbieten. Und Fallmanager, die die Familien begleiten. Im Idealfall gäbe es eine Telefonnummer, bei der sich der Arzt melden - und den Fall quasi abgeben kann.
Denken Sie vor allem an schwere oder auch an leichtere Fälle?
Menrath: Das Ziel sollte sein, dass Kinder gar nicht erst schwer erkranken. Und ich denke, dass durch diese Strukturen auch das präventive Angebot wie die Ernährungsberatung zunehmen könnte. Wenn ein Arzt bei einem Fünfjährigen eine ungute Entwicklung feststellt, kann so eine Beratung schon etwas bringen. Diese Angebote sind heute aber rar - und werden selten von den Kassen übernommen.
Das alles würde vermutlich viel Geld kosten. Woher soll das kommen?
Menrath: Das ist richtig - und es wäre gut, hier mehr Geld in die Hand zu nehmen. Ich sehe da vor allem die Kassen in der Pflicht. Viele der Kinder, die heute unter Übergewicht leiden, werden das auch im Erwachsenenalter tun und für das Gesundheitssystem eine große Belastung darstellen. Wir sollten das Geld nutzen, um bereits vorhandene Strukturen auszubauen und weiter zu professionalisieren.
Wie gehen Sie mit Kindern und Jugendlichen um, bei denen eine geänderte Ernährung und Bewegung nicht hilft?
Menrath: In manchen Fällen muss man überlegen, ob eine medikamentöse Therapie notwendig ist - Stichwort "Abnehmspritze". Hier sind wir sehr zurückhaltend, weil die Wirkung verfliegt, sobald man die Medikamente nicht mehr nutzt - und wenig darüber bekannt ist, welche Langzeitnebenwirkungen es bei Kindern und Jugendlichen gibt. Ganz abgesehen von der Frage der Kostenübernahme.
Was ist mit chirurgischen Eingriffen?
Menrath: Auch diesen Weg gehen wir im Extremfall bei jungen Erwachsenen. Das ist dann die letzte Stufe der Versorgungsleiter, die mit der einfachen Beratung beim Kinderarzt und vielleicht einer Ernährungsberatung beginnt. Es wäre gut, eine Versorgungsstruktur zu haben, die es erlaubt, die Kinder und Jugendlichen engmaschig dabei zu begleiten und immer wieder zu entscheiden, welche nächste Stufe man wählt. Von solchen Strukturen würden übrigens nicht nur Kinder und Jugendliche mit Adipositas profitieren - sondern mit chronischen Erkrankungen generell.
Das Gespräch führte NDR Reporter Marian Schäfer