Holocaustgedenken an einem Ort der Täter: Kann das funktionieren?
Der 27. Januar ist der Tag zum Gedenken für die Opfer des Naziregimes. In Schleswig-Holstein ist dieses Jahr die Marineschule Mürwik in Flensburg als Ort dafür vorgesehen.
Die Marineschule Mürwik in Flensburg soll Gedenkort sein. Am diesjährigen 27. Januar, dem Tag zum Gedenken der Opfer der Nazis, ist dort von der Landtagsverwaltung die zentrale Gedenkfeier in Schleswig-Holstein geplant. Kann ein Ort, der sowohl während des Zweiten Weltkrieges als auch zu seinem Ende ein bedeutender für die Nazis war, ein guter Ort für das Gedenken an die Opfer des Holocaust sein?
Kritiker halten Marineschule für ungeeignet
Nein, finden mehrere Historiker und Vertreter der Gedenkstätten im Land. Denn vom 3. bis 23. Mai 1945 war die Marineschule der letzte Sitz einer Regierung der nationalsozialistischen Diktatur unter Admiral Karl Dönitz. Hier wurden Kriegsverbrecher versteckt und Soldaten erschossen, die in den letzten Kriegstagen das sinnlose Sterben nicht weiter unterstützen wollten.
Für die Kritiker der geplanten Veranstaltung ist die Aufarbeitung dieser Geschehnisse vor Ort in viel zu geringem Maße geschehen. Deshalb haben sie sich bereits vor einigen Tagen in mehreren offenen Briefen an Landtagspräsidentin Kristina Herbst (CDU) gewandt. Auch die Fraktion der SPD kommentiert die Ortswahl kritisch, sieht darin "mangelndes Fingerspitzengefühl". Der Tenor der Kritik: Erinnerungskultur, auch an diesem Ort, muss sein. Aber nicht am 27. Januar, dem Tag zum Gedenken an die Opfer der Nazis.
Aufarbeitung in Mürwik für Historiker bisher nicht ausreichend
Einer der Kritiker der geplanten Veranstaltung ist Gerhard Paul, ehemaliger Geschichtsprofessor an der Universität Flensburg. Die Funktion der Marineschule als finaler Regierungssitz der Nazis sei nur eine von mehreren gewesen, die die Marineschule am Ende der Naziherrschaft hatte. "Hier wurden Kriegsverbrecher und die Nazi-Elite versteckt." Darunter: Heinrich Himmler, Chef der SS. Rudolf Höß, Leiter des Konzentrationslagers Auschwitz, in welchem die Alliierten ihn am 16. April 1947 für seine Verbrechen erhängten. Oder Alfred Rosenberg, einer der Hauptarchitekten der NS-Ideologie und Verwalter der eroberten Ost-Gebiete.
"Man kann nicht an so einem Täterort der Opfer gedenken. Wir haben ja in Schleswig-Holstein eine Vielzahl an Gedenkstätten." Die seien vielleicht nicht so dekorativ für eine Landtagspräsidentin, aber in der Sache deutlich geeigneter, findet Paul.
Historiker bemängelt fehlende Auseinandersetzung mit der Geschichte
Ähnlich klingt es bei Stephan Linck, ebenfalls Historiker. "Die Dönitz-Regierung wurde damals und wird heutzutage ja oft als eher unpolitisch gesehen. Dönitz schaffte es, sich vor allem als Militärs zu inszenieren." Und diese Annahme wurde offenbar nach dem Krieg oft übernommen, so Linck. Dabei sei Dönitz während des Krieges eben auch immer bekennender Nationalsozialist gewesen. Nicht ohne Grund wohl beförderte ihn Hitler 1943 nach der Entlassung von Erich Raeder zum Großadmiral und Oberbefehlshaber der Kriegsmarine. "Und die Marineschule ist mir bisher nicht mit einer besonders kritischen Auseinandersetzung mit dieser Geschichte aufgefallen", erklärt Linck.
Die zentrale Frage ist nicht das "Ob", sondern das "Wann"
Bei der Kritik geht es vor allem auch um das Datum. Der 27. Januar ist seit 1990 als Gedenktag für die Opfer der Nationalsozialisten etabliert. Am 08. Mai wiederum wird in vielen europäischen Ländern dem Kriegsende und der Befreiung von der Gewaltherrschaft der Nazis gedacht. Seit 2020 ist der Tag auch in Schleswig-Holstein ein offizieller Gedenktag.
"An jedem anderen Tag, der nicht der 27. Januar zum Gedenken an die Opfer ist, gehe ich die Entscheidung mit, nach Mürwik zu gehen. Um Erinnerungskultur stattfinden zu lassen", sagt Heino Schomaker. Er ist Vorsitzender der Landesarbeitsgemeinschaft "Gedenkstätten und Erinnerungsorte Schleswig-Holstein" und Mitunterzeichner der offenen Kritik an der Landesregierung.
Landtagspräsidentin hält an Mürwik fest
Für Landtagspräsidentin Kristina Herbst kommt die Kritik am geplanten Gedenken unerwartet. Sie sei seit längerem im engen Austausch mit der Marineschule und der jüdischen Gemeinde in Flensburg. Man habe auf allen Seiten das Gedenken aktiv mit geplant, sich eingebracht und positiv geäußert. Zudem seien in der Marineschule bereits viele Veranstaltungen zur Aufarbeitung der Geschichte des Orts durchgeführt worden.
"Zu sagen, dass sich Bundeswehr und Marineschule nicht mit diesem Ort auseinandergesetzt haben, ist aus meiner Sicht nicht korrekt." Für sie sei es genau richtig und wichtig auch Orte der militärischen Vergangenheit in das Gedenken an die Opfer einzubinden. Zudem habe der Schleswig-Holsteinische Landtag in der Vergangenheit vielfach gezeigt, das ihm an Aufarbeitung der Nazizeit gelegen sei. Aktuell liefen mehrere Studien, unter anderem zur Situation der Sinti und Roma im Land während der NS-Herrschaft.
Militärhistoriker: "Genozid ist nicht vom Militär zu trennen"
Unterstützt wird diese Haltung von Sönke Neitzel, Militärhistoriker an der Uni Potsdam. "Der Holocaust ist nur im Kontext des Vernichtungskrieges zu verstehen. Genozid und Militär müssen also gemeinsam betrachtet werden." Aus seiner Sicht sei ein Ort wie die Marineschule daher sehr gut geeignet, um diesen Zusammenhang sichtbar zu machen. Für ihn sei es genau richtig auch die militärischen Orte, an denen viele Verbrechen geschehen sind, aktiv in die Erinnerungskultur einzubinden.
Am geplanten Ablauf des Gedenkens am 27. Januar in der Marineschule soll sich laut Landtagspräsidentin Kristina Herbst jedenfalls trotz Kritik nichts ändern. Sie sei überzeugt von der Richtigkeit an den ehemaligen Täterort zu gehen. Auf die Frage, ob sie nach der für sie unerwarteten Kritik den gleichen Schritt wieder gehen würde, antwortet sie knapp: "Ja."