Jugendhilfe in Not: Freie Träger in SH warnen
Es braucht dringend mehr Pädagogen in der Kinder- und Jugendhilfe in Schleswig-Holstein, fordert ein Bündnis 16 freier Träger. Die Zahl an Jugendlichen, die Hilfe brauchen, wächst. Gleichzeitig fehle ausreichend Fachpersonal, das schon jetzt unter der Mehrbelastung ächzt - wie ein Beispiel aus Lübeck zeigt.
Wenn Kaja Baumbach in den Dienst startet, weiß sie nicht, was in den nächsten 24 Stunden auf sie zukommen wird. Sie ist Sozialpädagogin in einer Lübecker Einrichtung der Diakonie Nord-Nord-Ost. Dort kümmert sie sich während ihrer Schicht um zehn Jugendliche gleichzeitig. "Jeder Tag läuft anders ab. Man muss viel Flexibilität mitbringen", sagt sie. Das sei wichtig, um auf das Alltags-Geschehen der Jugendlichen eingehen zu können, die zwischen 14 und 16 Jahre alt sind.
Jugendliche stark vorbelastet
Kaja Baumbach ist für die Jugendlichen da. Sie kümmert sich um das Essen, macht mit ihnen Hausaufgaben, hat stets ein offenes Ohr. Es ist kein einfacher Job, sagt sie, denn die Jugendlichen sind zum Teil stark vorbelastet und haben in ihren Herkunftsfamilien schon so einiges erlebt - sei es Gewalt, Missbrauch, Vernachlässigung. So viel, dass es das Jugendamt für notwendig hielt, sie stationär unterzubringen - an einem Ort, wo sie rund um die Uhr durch geschultes pädagogisches Personal betreut werden können. Bis zur Volljährigkeit können sie bleiben - teilweise auch darüber hinaus.
Fast 1.600 Einrichtungen im Land
Einer dieser Orte ist die Einrichtung, in der Kaja Baumbach arbeitet. Er gehört zum evangelischen Wohlfahrtsverband Diakonie - einer von mehreren freien Trägern im Land, die im Auftrag der Jugendämter unterschiedliche Angebote der Kinder- und Jugendhilfe anbieten. Landesweit gibt es nach Angaben des Sozialministeriums 1.597 stationäre Einrichtungen der Kinder- und Jugendhilfe. Diese bieten rund 7.700 Plätze. Hinzu kommen 753 Plätze in Tagesgruppen.
Balanceakt und Krisenmanagement
"Leider ist es so, dass für die pädagogische Arbeit nicht so viel Zeit bleibt, wie wir es gerne hätten”, sagt Baumbach. Mal müsse sie spontan mit einem der Kinder zum Arzt oder für die Schule muss etwas Spezielles vorbereitet werden. Dann müsse umgeplant, manchmal improvisiert werden. Das ginge dann oft zulasten der pädagogischen Arbeit, so Baumbach.
Auch deshalb beschreibt sie die Arbeit mit den Jugendlichen als Balanceakt. "Es ist wie das Löschen verschiedener Brandherde - zur gleichen Zeit", sagt sie. Dabei gelinge es nicht immer, die Jugendlichen entsprechend ihrer Bedürfnisse zu begleiten. Was helfen würde, sei mehr Personal, sagt sie.
Unattraktive Rahmenbedingungen
Doch Nachwuchs zu finden, sei schwer, sagt Lutz Regenberg von der Diakonie Nord-Nord-Ost. Schichtdienst und die hohen Belastungen würden den anspruchsvollen Beruf unattraktiv für neue Fachkräfte machen. Und auch, dass die pädagogische Arbeit unter der knappen Personaldecke leidet, schrecke einige Pädagogen ab. Im Rahmen des Aktionsbündnis Kindeswohl setzt sich Regenberg für bessere Rahmenbedingungen von der Politik für die Kinder- und Jugendhilfe ein.
Er kritisiert, dass diese seit den 80er-Jahren nahezu unverändert geblieben seien. "Es hat sich im Prinzip alles verändert außer die Rahmenbedingungen", sagt Regenberg. Die Kinder hätten andere Probleme, mit denen sie in stationäre Einrichtungen kämen. Mitarbeiter hätten andere Interessen. Tarifliche Rahmenbedingungen hätten sich verändert, so Regenberg. Deshalb brauche es eine Reform.
Fachkräfte wandern ab
Bleibe es bei den bisherigen Rahmenbedingungen, befürchtet Lutz Regenberg, dass mittelfristig die stationären Hilfen gefährdet seien.
Die pädagogischen Fachkräfte wandern ab in andere Arbeitsfelder. Sie verlassen die stationäre Jugendhilfe - wechseln also. Und wir stehen dann da, können keine neuen Fachkräfte gewinnen, weil unsere Rahmenbedingungen nicht attraktiv sind. Lutz Regenberg, Diakonie Nord-Nord-Ost
Unattraktiv sei der Beruf, so Regenberg, weil es nur darum ginge, Brände zu löschen. Dabei würden Fachkräfte in dem Beruf arbeiten, weil sie fachlich wirksam sein und die Entwicklung von Kindern- und Jugendlichen unterstützen wollen. Regenberg: "Das gelingt nur, wenn wir es schaffen, mehr Kräfte in den Dienst zu bekommen."
Sieben statt 5,2 Betreuende
Laut Lutz Regenberg sind 5,2 Vollzeit-Kräfte pro Einrichtung vorgesehen - rund um die Uhr, 365 Tage im Jahr. Dabei müssten es sieben sein. So zumindest lautet eine der Forderungen des Aktionsbündnis Kindeswohl. Das wiederum würde ermöglichen, dass in den Hauptzeiten - also nachmittags und abends - die Einrichtungen doppelt besetzt wären. Außerdem, so die Forderungen, müsste das Gehalt um zehn Prozent angehoben werden, damit der Beruf attraktiver werde.
Touré: "Probleme durch das Land nicht steuerbar"
Anfang Juni war die Jugendhilfe auch Thema im Sozialausschuss des Schleswig-Holsteinischen Landtags. Im Rahmen eines Berichts der Landesregierung sagte Sozialministerin Aminata Touré (Grüne): "Die Forderungen des Aktionsbündnisses kann ich fachlich nachvollziehen. Allerdings sind die Probleme durch das Land nicht steuerbar.”
In Schleswig-Holstein sind die Jugendämter vor Ort für Kinder- und Jugendhilfe zuständig. Das Land übernimmt lediglich eine administrative Aufgabe über die Jugendämter. Die Verantwortung für die Kinder- und Jugendhilfe, die sich aus dem Sozialgesetzbuch ableitet, liegt somit auf kommunaler statt auf Landesebene.
Dennoch sei man mit den Verbänden und auch mit anderen Bundesländern im Gespräch, so Touré. Dabei gehe es auch um die Frage, ob man gemeinsam eine Änderung im Sozialgesetz anstreben soll. Dadurch wolle man die Probleme angehen, die durch mangelnde Kapazitäten entstünden, so die Ministerin Anfang Juni.
Ein Mehrwert für Jugendliche
Offen bleibt, wie sich die Forderungen des Aktionsbündnisses erfüllen lassen. Vor allem auf die Forderung nach mehr Betreuenden in den Einrichtungen gibt es bislang keine Antwort. Gebraucht werden sie allemal. "Allein um den Jugendlichen den Raum zu geben, sich mit ihren Bedürfnissen äußern zu können, wäre weiteres Personal sehr hilfreich", sagt Kaja Baumbach.
Schließlich sind es am Ende die Jugendlichen, die unter der Last des Personalmangels leiden. Denn ohne ausreichend Personal in den Einrichtungen, leidet nicht nur die Betreuung. Es erschwert zugleich ihren Weg ins eigenständige, selbstbestimmte Leben, das nach der stationären Jugendhilfe auf sie wartet. Ein Leben, auf das Kaja Baumbach sie bestmöglich vorbereiten möchte.