Ein Syrer in Barsbüttel: Vom Geflüchteten zum Helfer
Mahammd Abu Alkher ist als junger Mann aus Syrien nach Deutschland geflohen. Er kannte niemanden, sprach kein Deutsch. Heute engagiert er sich bei der Tafel und der freiwilligen Feuerwehr.
Es muss schnell gehen. Keine zwei Stunden mehr, bis die Lebensmittelausgabe öffnet. Mahammd Abu Alkher trägt eine orangefarbene Weste mit dem Aufdruck "Barsbütteler Tafel" und wuchtet eine Kiste voller Radieschen auf einen Holztisch. Daneben stapeln sich Berge von Obst und Gemüse. Tomaten, Kartoffeln, Champignons, Bananen. "Ich kenne das Gefühl, Hilfe zu brauchen", sagt er. "Das ist der Grund, weshalb ich das mache."
Seit sechs Jahren engagiert sich Abu Alkher bei der Tafel in Barsbüttel (Kreis Stormarn). Der 26-Jährige schleppt Kartons, baut Tische auf, verlädt Waren und fährt Supermärkte ab. Ein bis zweimal pro Woche macht er das inzwischen. "Die Tafel ist mein zweites Zuhause geworden", sagt er. Dass er hier einmal stehen würde, in einem Hamburger Vorort, und Obst und Gemüse sortieren würde, hätte er früher nie gedacht.
Jeden Tag fielen Bomben auf seine Stadt
Abu Alkher wächst in der syrischen Großstadt Homs auf. Er verbringt dort eine unbeschwerte, glückliche Kindheit, sagt er. "Wir haben mit den Nachbarjungs auf der Straße Fußball gespielt." Seine Familie ist wohlhabend, der Vater arbeitet in gehobener Position in einer Ölraffinerie. Sie haben zwei Autos. "Ich hatte eigentlich keine Sorgen", sagt Abu Alkher.
Das ändert sich schlagartig, als er in die neunte Klasse kommt. Im ganzen Land breiten sich Proteste gegen den Diktator Baschar al-Assad aus, Homs wird zur Rebellenhochburg. Ein Bürgerkrieg bricht aus. "Ich hatte danach keine Kindheit mehr", sagt Abu Alkher. "Jeden Tag Bomben."
Er hört das Geräusch der Rakete - dann den Einschlag
Eines Abends - es ist schon elf oder zwölf Uhr, so erinnert er sich - geht sein Vater Brot kaufen. Tagsüber wäre das zu unsicher, wegen der Scharfschützen, die sich in der Stadt verstecken. "Ich habe mich schon mal ins Bett gelegt und auf ihn gewartet", sagt Abu Alkher. Kurz darauf hört er das Geräusch einer Rakete.
Ein erster Einschlag. Dann ein zweiter. "Wir kannten dieses Geräusch ganz genau." Die Rakete schlägt fünfzig Meter von seinem Haus entfernt ein. Metallsplitter bohren sich durch zwei Wände hindurch in den Rücken seines Vaters. Der Vater stirbt wenige Stunden später im Krankenhaus.
Abu Alkher: "Gott sei Dank habe ich es geschafft"
Zwei Monate später entschließt sich Abu Alkher zur Flucht ins Ausland. Die Mutter bittet ihn darum zu gehen. "Du bist hier nicht mehr sicher, hat sie gesagt." Er flüchtet in die Türkei und schlägt sich dort eineinhalb Jahre lang mit Gelegenheitsjobs durch. In einer Fabrik schneidet er Stoffstücke für Damenhandtaschen. In einer Bäckerei backt er Brote. In einer Shishabar arbeitet er als Kellner.
2015 reist er weiter. Erst mit dem Boot nach Griechenland, dann zu Fuß und mit dem Auto nach Deutschland. Über Wälder, Straßen, Feldwege. 13 Tage lang dauert die letzte Etappe seiner Flucht. Dann erreicht er Deutschland. "Gott sei Dank habe ich es geschafft", sagt Abu Alkher. "Viele andere sind gestorben. Ich hatte Glück."
Am Anfang kennt er niemanden in seiner neuen Gemeinde
Nach seiner Ankunft wird er in einer Gemeinschaftsunterkunft untergebracht, besucht einen Integrationskurs und lernt Deutsch. Er sehnt sich nach Anschluss, nach Gemeinschaft. "Am Anfang kannte ich hier niemanden. Wenn ich an der Bushaltestelle stand, sind die Leute auf Abstand gegangen."
Das ändert sich schnell. Er findet Arbeit als Verkäufer in einem Kiosk und als Kellner in einem Café. Und er lernt Beate Hoffmann kennen, die Vorsitzende der Barsbütteler Tafel. Sie bringt ihm und seinen Mitbewohnern ehrenamtlich Deutsch bei und vermittelt den Kontakt zur Tafel. Als er fragt, ob er dort mithelfen kann, sagt sie ja.
Helfer wie Abu Alkher halten den Betrieb am Laufen
"Er ist ein wahnsinnig sympathischer, wahnsinnig netter und wahnsinnig lieber junger Mann", sagt Hoffmann. "Wenn wir all die Helferinnen und Helfer mit Migrationshintergrund auf einen Schlag nicht hätten, dann hätten wir ein ziemlich großes Problem."
Denn auch in Barsbüttel kommen seit einiger Zeit deutlich mehr Bedürftige zu den Tafelausgaben als früher: Ihre Zahl ist seit Anfang vergangenen Jahres um 140 auf mittlerweile 460 gestiegen. Zuverlässige Helfer wie Abu Alkher werden umso mehr gebraucht.
Aus dem Fremden wird ein Bekannter
Durch sein Ehrenamt bei der Tafel habe er nicht nur schneller Deutsch gelernt, sondern auch viele neue Freundschaften geschlossen, erzählt er. "Jetzt grüßen mich alle." Aus dem fremden Mann, der an der Bushaltestelle misstrauisch beäugt wurde, ist ein Bekannter geworden.
Hinzu kommt, dass er sich seit September für die freiwillige Feuerwehr in seiner Gemeinde engagiert. Er absolviert eine dreimonatige Grundausbildung und besucht zweimal pro Woche den Theorie- und Praxisunterricht. Sein Feuerwehrkamerad Marco Obernosterer sagt über ihn: "Er ist für mich das beste Beispiel für Integration. Solche Leute brauchen wir in Deutschland."
Natürlich, sagt Abu Alkher, vermisse er sein früheres Zuhause und seine Familie. Er telefoniere jeden Tag mit seiner Mutter in Syrien - oft zwei, drei Mal. Aber er sagt auch: Er wolle einen Neustart schaffen. Zurzeit bewirbt er sich um eine Ausbildung zum Maschinenbau-Mechatroniker. Rund 70 Bewerbungen hat er schon abgeschickt. "Das ist mein Traum", sagt er. "Ich will hier auf eigenen Beinen stehen."