Dank selbst gebauter Prothese: Kitesurfer zurück auf dem Wasser
Als Jugendlicher träumt Stefan Völckers davon, Windsurf-Profi zu werden. Doch dann kommt die Diagnose: Knochenkrebs. Die Amputation seines rechten Beins rettet Stefan das Leben und zerstört seinen Traum. Jahrzehnte später verändert eine Internetbekanntschaft sein Leben und gibt ihm neue Hoffnung.
Als Stefan Völckers 1978 mit acht Jahren im Familienurlaub an einem Windsurf-Kurs teilnimmt, muss sein Lehrer ihm noch eigens ein Segel in Kindergröße basteln. Die Sportart steht noch ganz am Anfang. Trotz der rudimentären Ausrüstung ist für Stefan sofort klar: Das ist, womit er sein Leben verbringen möchte! Seine bis heute andauernde Liebe für den Wassersport ist geboren.
Jede freie Minute seiner Jugend verbringt Stefan, der in Heikendorf und Schönkirchen (Kreis Plön) aufwächst, fortan auf dem Wasser. Selbst im Winter übt er auf einem selbstgebauten Skateboard mit Segel. Einige Jahre später hat er sogar Ambitionen, seinem Idol, dem Profisurfer Robby Naish nachzueifern und seine Leidenschaft zum Beruf zu machen. Er will nach Hawaii ziehen, wo die Bedingungen ideal sind, um seine Fähigkeiten auf das nächste Level zu heben. Der Windsurf-Sport erlebt zu dieser Zeit einen Boom und Stefan hat gute Chancen, seinen Traum Realität werden zu lassen. Doch dann kommt alles anders.
Selbstmordgedanken nach Amputation
Mit 16 Jahren bekommt Stefan die Diagnose Knochenkrebs. Es folgen zehn Monate im Krankenhaus, Chemotherapie und eine folgenreiche Operation. Die Ärzte retten ihm das Leben, indem sie sein rechtes Bein amputieren, zerstören damit aber auch seinen Traum, Profisurfer zu werden. "Die Lebensbedrohlichkeit durch die Krebserkrankung war gar nicht das Schlimmste, sondern zu realisieren, dass ich nie wieder surfen kann", erinnert sich Stefan. An den Außenwänden seines Kinderkrankenhauses hängen bei den höheren Stockwerken Netze, die einen auffangen sollen, falls man aus dem Fenster fällt. "Da habe ich mir Gedanken gemacht, wie ich an denen vorbei springen kann, um mir das Leben zu nehmen".
Erste Schritte in ein neues Leben
Nach einiger Zeit kehrt Stefan zurück an seine Schule, knüpft Freundschaften in seiner neuen Klasse und lernt dort auch Anna kennen, die er später heiraten wird. Diese Beziehungen geben ihm die Kraft, sich mit seiner neuen Lebensrealität zu arrangieren und wieder optimistisch in die Zukunft zu blicken. Nach dem Abitur tritt Stefan in die Fußstapfen seines Vaters, eines Gynäkologen. Eigentlich etwas, das er nie wollte. "Für mich war immer klar, dass ich auf keinen Fall Arzt werden möchte", sagt Stefan und fügt hinzu: "Ich bin ein freiheitsliebender Mensch und habe kein Interesse, mich durch einen normalen Beruf einschränken zu lassen". Er möchte lieber frei sein, Sport machen und um die Welt reisen. Doch seine Krankheit erfordert eine gute ärztliche Versorgung und bindet ihn an Deutschland.
Eine Karriere, die Probleme mit sich bringt
Nach dem Medizinstudium folgt für Stefan eine steile Karriere. Gemeinsam mit seinem Bruder baut er ein Unternehmenskonstrukt samt eigener Klinik auf - mit ungefähr 400 Mitarbeitern, darunter vielen Ärzten. Auch privat läuft es gut. Mit seiner Frau Anna bekommt er zwei Töchter. Von außen betrachtet läuft es perfekt. Aber es ist eben nicht das Leben, das Stefan sich erträumt hatte. Dazu kommt, dass er als Chef eine enorme Verantwortung trägt und seine Freigeist-Natur nur bedingt ausleben kann. Auch der persönliche Kontakt zu den Patienten aus seiner Anfangszeit als Gynäkologe fehlt ihm in seiner Funktion als Geschäftsführer zunehmend.
"Ich wollte immer Surfer, niemals Arzt sein"
Mit wachsendem Erfolg steigt auch der Druck. Es folgen Schlafprobleme, Panikattacken und am Ende ein Zustand totaler Erschöpfung. "Das war der Zeitpunkt, wo es einfach nicht mehr weiter ging", sagt Stefan, der daraufhin sein Unternehmen größtenteils verkauft und fortan als Angestellter in Teilzeit einer deutlich entspannteren Tätigkeit im Labor nachgeht. Die gewonnene Freizeit nutzt er zur Selbstfindung und Sinnsuche. Er rekapituliert die Entscheidungen der vergangenen Jahrzehnte. "Ich wollte immer Surfer, niemals Arzt sein. Ich wollte Spaß haben, das Leben genießen und nicht viel arbeiten - habe aber das Gegenteil getan."
Der Sport wird wieder zum Lebensinhalt
Auf Instagram findet Stefan im Herbst 2022 ein Video von Vincent Beauné - einem französischen Kitesurfer, der genau wie er am rechten Oberschenkel amputiert ist. "Das hat mich total geflasht, als ich gesehen habe, dass er mit einer Prothese kitet", erinnert sich Stefan, der Vincent anschreibt und sich kurz darauf mit ihm in Frankreich trifft, um seine Geschichte zu erfahren. Vincent hat die wenigen verfügbaren für Sport konzipierten Kniegelenke für Prothesen durchprobiert. Ergebnis: zum Kitesurfen nur bedingt geeignet. Noch dazu sind sie mit einem Anschaffungspreis von 10.000 Euro aufwärts für viele Menschen zu teuer. Deshalb beschließt der Franzose kurzerhand, ein eigenes Modell zu bauen. Ein Fahrradstoßdämpfer federt die harten Stöße beim Kiten ab, die leichte Bauweise hilft dabei, nicht unter Wasser gezogen zu werden und spezielle Materialien trotzen der Korrosion durch Salzwasser.
"Das war für mich eine Offenbarung. Das ist eine Emotion, die ich gar nicht beschreiben kann. Für mich hat da ein neues Leben angefangen." Stefan Völckers, Kitesurfer
Die beiden werden Freunde und bauen auch eine Prothese für Stefan. Kurze Zeit später ist es dann soweit. Bei Dakhla in der Westsahara steigt Stefan mit seinem neuen Beinersatz und Kitesurfausrüstung in den Atlantischen Ozean und gleitet erfolgreich durch das Wasser. Er fasst den Entschluss, dass der Sport für den Rest seines Lebens wieder ein Hauptthema sein wird. Und dass er anderen Menschen mit Amputationen helfen möchte, dieses Glück auch zu erfahren.
Hilfe für andere Amputierte
Mit ihrem Verein "Alefa" helfen Stefan und Vincent anderen Amputierten, kostengünstig an eine für Wassersport geeignete Prothese zu kommen. Über Instagram versuchen sie, Menschen mit Amputationen darauf aufmerksam zu machen. Und das funktioniert. Aus aller Welt melden sich Interessierte. "Es hilft mir auch total zu sehen, dass ich nicht alleine bin", sagt Stefan, der heute immer noch an der Ostsee in Schönberger Strand (Kreis Plön) lebt: "Bisher war ich alleine in einer Welt von Zweibeinern und jetzt ist es eine totale Entlastung, zu sehen, dass viele Menschen das gleiche Schicksal teilen - und dass ich einigen davon helfen kann."