Clankriminalität in Niedersachsen: Weniger Straftaten registriert
Am Montag ist in Hannover das "Lagebild von Polizei und Justiz zur Clankriminalität in Niedersachsen 2023" vorgestellt worden. Mit der Statistik soll ein bestimmtes Kriminalitätsphänomen beschrieben werden. Doch der Begriff ist umstritten.
3.610 Straftaten in Niedersachsen wurden im vergangenen Jahr dem Feld der Clankriminalität zugeordnet, teilten Innenministerin Daniela Behrens und Justizministerin Kathrin Wahlmann (beide SPD) am Montag mit. Im Jahr 2022 waren es demnach noch 3.986. Das entspricht einem Rückgang von 9,43 Prozent. Den größten Anteil machten mit 1.110 Taten sogenannte "Rohheitsdelikte" - etwa Körperverletzung und Straftaten gegen die persönliche Freiheit wie Bedrohung - aus.
Konzentration auf Menschen aus türkischem und arabischem Raum
Ziel der Landesregierung sei es, "kriminellen Clanstrukturen konsequent und mit allen zur Verfügung stehenden rechtsstaatlichen Mitteln zu begegnen", heißt es im ersten Lagebild zu Clankriminalität von 2019. Dabei konzentriert sich das Land vornehmlich auf Menschen aus dem türkischen und arabischen Raum. Die Ermittlerinnen und Ermittler gehen dabei von "ethnischer Abschottung", Aggressivität, Gewalttätigkeit und der offenen Konfrontation mit dem deutschen Rechtsstaat aus.
"Indikatoren überzeugen nicht"
Doch die Kritik an dieser Einordnung wird lauter. Wegen einer vermeintlichen familiären Zugehörigkeit werden migrantische Menschen gesondert registriert. Das verstoße gegen den Gleichbehandlungsgrundsatz, heißt es. Zu den kritischen Stimmen gehört auch die Kriminologin Laila Abdul-Rahman. Sie sagt im Gespräch mit dem NDR Niedersachsen: "Aus wissenschaftlicher Perspektive können die Indikatoren, die angewendet werden, um Straftaten der 'Clankriminalität' zuzuordnen, nicht überzeugen. Die sind nämlich aus stereotypen Vorstellungen zusammengewürfelt und in ihrer Anwendung nicht transparent." Zusammengefasst heißt das: Es sei völlig unklar, aus welchen Gründen die Menschen der Statistik zugeordnet werden.
Studie zeigt: Familienbegriff überschätzt
Und das hat aus Sicht der Kriminologin Konsequenzen: Ganze Familienstrukturen würden unter Generalverdacht gestellt - bloß, weil die Mitglieder denselben Nachnamen tragen: "Die rassistischen und diskriminierenden Vorstellungen über migrantische Menschen münden in einer eigenen Kriminalstatistik." Jüngste Forschungen haben dagegen gezeigt: Der Familienbegriff, der bei solchen Statistiken angewendet wird, ist überschätzt. Die meisten Angehörigen seien nicht kriminell, heißt es in einer Studie des Forschungszentrums für Islam und Recht in Europa.
Auch Verkehrsverstöße werden erfasst
Doch obwohl das Lagebild der organisierten Kriminalität untergeordnet ist, erfasst es nicht bloß schwere Straftaten wie Drogenhandel, sondern auch den Diebstahl eines Müsli-Riegels an der Tankstelle und Verkehrsverstöße. Auch innerhalb der Polizei werden nach NDR Informationen kritische Stimmen laut. Es heißt, dass Taten zu häufig der Clankriminalität zugeordnet würden, obwohl sie es möglicherweise gar nicht sind. 2023 hat die sogenannte "Clankriminalität" 0,65 Prozent der gesamten Kriminalstatistik in Niedersachsen ausgemacht - also nur einen Bruchteil der begangenen Straftaten.
Innenministerin weist Kritik zurück
Den Vorwurf, die Statistik sei diskriminierend, kann Niedersachsens Innenministerin Daniela Behrens (SPD) nicht verstehen: "Wir sind der festen Überzeugung, dem ist nicht so." Kriminalität könne man nur bekämpfen, wenn man sie erkennt und benennt und Konzepte dagegen entwickelt. Neben Niedersachsen erheben auch Berlin, Nordrhein-Westfalen und das Bundeskriminalamt Zahlen zu Straftaten mit "Clan-Bezug".
Grüne äußern Bedenken an Statistik
In der rot-grünen Koalition machen sich dagegen Zweifel breit, ob die geringen Fallzahlen eine gesonderte Statistik rechtfertigen. Aus Sicht der Grünen sind zu viele wissenschaftliche Fragen ungeklärt. Die rechtspolitische Sprecherin Evrim Camuz macht im Gespräch mit dem NDR Niedersachsen deutlich: Es sei nicht verständlich, wieso dem Phänomen noch immer so unterschiedlich schwere Straftaten "wie Totschlag und Geldwäsche auf der einen und Straßenverkehrsdelikte auf der anderen Seite zugeordnet werden".
Verband der Sinti und Roma stellt sich gegen Stigmatisierung
Mit diesem Kritikpunkt sind die Grünen nicht allein. Auch der Verband der Sinti und Roma in Niedersachsen stellt sich diese Frage. Im vergangenen Jahr wurde zum ersten Mal eine Roma-Familie in der Statistik erfasst. Das hat für massive Kritik gesorgt. Mario Franz vom Verband der Sinti und Roma sagt: "Wir sind selbstverständlich für die Erfassung und die Bestrafung krimineller Personen. Allerdings unabhängig von kultureller oder ethnischer Zugehörigkeit oder der Staatsbürgerschaft." Sein Verband stelle sich ausdrücklich dagegen, dass ein Generalverdacht gegen bestimmte Bevölkerungsgruppen erhoben werde. Die Kritikerinnen und Kritiker sind überzeugt: Eine solche pauschale Beschuldigung sorge letztlich nur dafür, dass Feindbilder weiter bestehen bleiben.