Seeadler in MV: Zwischen Babyboom und Bleivergiftung
Die Seeadler sind echte Norddeutsche. 479 Revierpaare mit 215 Jungvögeln sind 2024 in Mecklenburg-Vorpommern dokumentiert worden. Das ist der Spitzenwert in Deutschland.
Diese Erfolgsgeschichte wäre ohne die ehrenamtlichen Naturschützer der "Ornithologischen Arbeitsgemeinschaft Seeadlerschutz MV" nicht möglich. Die etwa 100 Ehrenamtlichen haben sich das Bundesland in vier Regionen aufgeteilt. In der Region West koordiniert der Schweriner René Feige die ehrenamtliche Arbeit der 35 Horstbetreuerinnen und Horstbetreuer. In detektivischer Kleinarbeit beobachten sie die Brutsaison von der Eiablage bis zum Beringen und Ausfliegen des Seeadlernachwuchses in den 117 bekannten Horsten. Sie seien die Augen und Ohren der Naturschutzverwaltung, heißt es aus dem Landesamt für Natur, Umweltschutz und Geologie (LUNG) in Güstrow. Sie liefern Datenmaterial für das Umweltmonitoring und unterstützen die Wissenschaftler im Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung.
Seeadler als Umwelt-Indikatoren für den Klimawandel
Seeadler reagieren extrem sensibel auf Umweltveränderungen. Das macht sie beispielsweise für die Klimaforschung interessant. Seeadler brüten nur dort, wo die Natur intakt und genug Nahrung verfügbar ist. Durch seine Untersuchungsreihen auf der Insel Usedom hat der Tiermediziner Dr. Oliver Krone vom Leibniz-Institut nachgewiesen, dass die Seeadler zehn bis 14 Tage früher brüten als vor 20 Jahren. Ihre Hauptnahrung, die Weißfische, laichen immer früher im Jahr im Achterwasser um Usedom. Das liegt an den gestiegenen Wassertemperaturen. Und das ist ein Beleg für den Klimawandel. Der Wissenschaftler vom Leibniz-Institut berät die ehrenamtlichen Horstbetreuerinnen und -betreuer in MV.
Das sei das Schöne, sagt einer der Horstbetreuer von der Insel Poel. Dass man nicht nur die beeindruckenden Vögel beobachten könne, sondern dass man mitlebe mit den Seeadlern. Höhepunkt der Brutsaison ist die Beringungskampagne im Mai und Juni. Durch regelmäßige Beobachtung haben die Ehrenamtlichen um René Feige herausbekommen, wann die Küken groß genug sind für das Beringen. Professionelle Baumkletterer aus Norddeutschland und Berlin steigen dann in die Eschen, Pappeln, Buchen und Kiefern hinauf. Manche Brutbäume sind 27 Meter hoch.
Eine Brutsaison mit Adoptionserfolg
Eine außergewöhnliche Aktion starteten sie am 27. Mai 2024. Auf der Insel Poel wurde einer Seeadlerfamilie mit nur einem Küken ein zweiter, ein fremder Jungvogel untergeschoben. Die Erfolgsaussichten dafür stehen fifty-fifty. Das Küken hatten Ornithologen am Niederrhein auf der Bislicher Insel nahe Xanten aus dem Nest genommen. Zuvor war eines der Elterntiere gestorben. Das bedeutete Brutabbruch und hätte den sicheren Tod des Nachwuchses nach sich gezogen. Das Küken aus Nordrhein-Westfalen päppelten sie in der Greifvogelstation Wesel auf und brachten es zur Aufzucht in den Wildpark Eekholt in Schleswig-Holstein. Jetzt musste nur noch eine Adoptionsfamilie mit einem gleichaltrigen Jungvogel gefunden werden. Wegen der akribisch geführten Datenbank in Westmecklenburg konnte René Feige den Poeler Horst mit einer passenden Adlerfamilie anbieten. Eine Erfolgsgeschichte: Die Seeadler haben den fremden Nestling einen Tag später angenommen und gefüttert - Naturschutz über Bundesländergrenzen hinweg.
Gefahr von Bleimunitionsresten für Seeadler
Im Keller des LUNG in Güstrow steht eine Kühltruhe. Hier landen alle tot aufgefundenen Seeadler aus MV. Sie gehen einmal pro Jahr zur Obduktion zu Dr. Oliver Krone in das Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung in Berlin. Da die Greifvogelpaare ganzjährig in ihrem Revier leben und sich die Seeadler als "Allesfresser" von Fisch, Fleisch und Aas ernähren, ist die Ermittlung ihrer Todesursache von enormem Wert für das Umweltgiftmonitoring. Aktuell fragt sich der Wissenschaftler Dr. Oliver Krone, wie gesund unsere Umwelt eigentlich ist, wenn in Seeadlern von der Insel Usedom Bestandteile von Sonnencreme nachweisbar sind? Immer häufiger registriert er als Todesursache in Mecklenburg-Vorpommern Kollisionen mit Eisenbahnen und Windkraftanlagen. Bei einer anderen, von Menschen gemachten Todesursache wird er im Ton schärfer: Es sei völlig unnötig, dass immer noch Seeadler in MV an Bleivergiftung zugrunde gehen. Von den 670 über die Jahre aus dem Nordosten zur Untersuchung eingeschickten Seeadlern hat er in 171 Fällen als Todesursache Bleivergiftung festgestellt. Hinzu kommen Hinweise auf Langzeitschäden durch Bleikontamination, nachgewiesen in Knochen und inneren Orangen. Einige Seeadler verlieren den Orientierungssinn, andere ihrer Sehkraft.
Bleihaltige Jagdmunition gilt für den Berliner Wissenschaftler als eindeutige Ursache. Jäger, die ihr erlegtes Wildschwein, ihr Reh oder ihren Hirsch im Wald "aufbrechen", lassen die Innereien zurück. So lässt es das Jagdrecht zu. Und das sei auch gut so, meint Dr. Oliver Krone. Die Seeadler hätten gerade im Winter eine weitere Quelle für proteinhaltige Nahrung. Ist das Wild allerdings mit Bleikugelmunition geschossen worden, nimmt der Adler die kontaminierten Innereien auf und stirbt qualvoll.
Regelungsstau: Bleimunition noch immer nicht überall verboten
Dabei gibt es längst alternative Munition aus Kupfer, Wolfram, Zinn und anderen Metallen. Dr. Oliver Krone hat sogar die Jagdprüfung abgelegt, um das Thema bis in alle Feinheiten zu durchdringen. In Dänemark und in mehreren Bundesländern, so auch in Schleswig-Holstein, darf nur noch mit bleifreien Patronen geschossen werden. Dort wird seit 2013 im Kern argumentiert: Blei ist ein Gift. Kontaminiertes Wildbret sei also nicht auszuschließen. Es bestehe beim Verzehr die Gefahr für die menschliche Gesundheit. Außerdem litten streng geschützte Arten, wie Seeadler, unter der Nutzung der giftigen Jagdmunition.
Die Bundesländer, die sich dem Bleiverbot in der Jagd vor über zehn Jahren nicht anschließen wollten, so auch MV, argumentierten: Hier sei das Waffenrecht berührt. Und das sei eine Bundesangelegenheit. Sie würden warten, bis eine Reform des Waffenrechts beschlossen wird - und sie warten bis heute.
Der bundesdeutsche Regelungsstau hat zu einem Flickenteppich geführt. In Mecklenburg-Vorpommern ist Bleikugelmunition in Staatsforsten und kommunalen Wäldern verboten. In den Privatjagdgebieten nicht. Ungefähr 40 Prozent der Wälder sind hierzulande in Privatbesitz. In den dort ausgewiesenen Jagdbezirken darf mit Bleikugelmunition geschossen werden.
Für Bleischrot gilt Pufferzone von 400 Metern
Dass es auch anders geht, beweisen die Regelungen zum Einsatz von Bleischrot bei der Jagd auf Enten und Gänse. Die EU hat 2023 Bleischrot über Feuchtgebieten und im Umkreis von 100 Metern verboten. In MV gilt sogar eine Pufferzone von 400 Metern. Jetzt dürfen die Jäger nur noch mit Stahlschrot oder anderen Ersatzmunitionstypen dem Wassergeflügel nachstellen. Und so werden die Seeadler rund um die Insel Poel "angebleite" verletzte Zugvögel nicht mehr als Winternahrung antreffen.
Für René Feige, den ehrenamtlichen Seeadlerschützer aus Mecklenburg, ein kleiner Erfolg. Er kann sich noch gut an einen dänischen Adler erinnern. Der Greifvogel war einer der wenigen, dem in seiner Jugend ein Sender auf den Rücken geschnallt worden war. Mit einer speziellen Handy-App verfolgten dänische Wissenschaftler dessen Ausflüge nach Mecklenburg. Eines Tages alarmierten sie René Feige. Ihr Seeadler hatte sich in Mecklenburg vier Tage lang nicht mehr gerührt. René Feige fand den dänischen Seeadler schwer erkrankt. Der Greifvogel starb. Die Ursache: Bleivergiftung.
Erfolg wäre ohne Ehrenamtliche nicht möglich
Unserem NDR-Hanseblick-Team gelangen einzigartige Einblicke in die Lebenswelt der Greifvögel und in die Arbeitsweise der ehrenamtlichen Naturschützer zwischen Bützow und der Insel Poel. Die Dokumentationen wären ohne René Feige, den Koordinator West der ornithologischen AG Seeadlerschutz, nicht möglich gewesen. Und auch nicht ohne die ehrenamtlichen Horstbetreuer und -betreuerinnen im Land.
In detektivischer Kleinarbeit beobachten sie die Brutsaison von der Eiablage bis zum Beringen und Ausfliegen des Seeadlernachwuchses in den 117 bekannten Horsten. Sie seien die Augen und Ohren der Naturschutzverwaltung, heißt es aus dem Landesamt für Natur, Umweltschutz und Geologie (LUNG) in Güstrow. Sie liefern Datenmaterial für das Umweltmonitoring und unterstützen die Wissenschaftler im Berliner Leibniz-Institut für Zoo- und Wildtierforschung.
Zur richtigen Tageszeit am richtigen Ort zu sein, das ist die eine Seite. Aus großer Distanz zu den Seeadlerhorsten gute Filmsequenzen zu drehen und das Verhalten der extrem scheuen Tier deuten zu können, das ist die andere Seite. Entstanden sind die Nordreportage "Babyboom in der Baumkrone" (03.12.2024), ein Hanseblick "Seeadlerland MV" (19.01.2025), eine Nordstory spezial "Im Reich der Seeadler" (06.04.2025) und unser Podcast "MV im Fokus: Zwischen Babyboom und Bleivergiftung" - ab sofort in der ARD-Audiothek und überall wo es Podcasts gibt. Darin erzählen wir von einschneidenden Erlebnissen während der den Dreharbeiten und wie es sich anfühlt, den Seeadlern so nah zu kommen.